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In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren
der der Alternative für Deutschland (AfD), vertreten durch den Bundesvorstand, dieser vertreten durch den Bundessprecher, Herrn Tino Chrupalla, und die stellvertretende Bundessprecherin, Frau Alice Weidel, Schillstraße 9, 10785 Berlin,
Klägerin,
Prozessbevollmächtigte: XXX
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, Merianstraße 100, 50765 Köln,
Gz.: Z13 018 570002 0032 0006/19S,
Beklagte,
Prozessbevollmächtigte: XXX
wegen Einstufung des sog. „Flügels“ als Verdachtsfall und als „gesichert extremistische Bestrebung“
Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, den „Flügel“ als „gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen.
Die Beklagte wird ferner verurteilt, es zu unterlassen, durch das Bundesamt für Verfassungsschutz öffentlich bekanntzugeben, dass der „Flügel“ als gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ eingeordnet, beobachtet, behandelt, geprüft und/oder geführt wird.
Der Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungsanordnungen ein Ordnungsgeld bis zu 10.000 € angedroht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 3/7 und die Beklagte zu 4/7.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Klägerin ist eine im Deutschen Bundestag, in allen 16 deutschen Landesparlamenten und im Europäischen Parlament vertretene politische Partei.
3Am 14. März 2015 gründeten der Vorsitzende des Landesverbandes Thüringen der Klägerin, Björn Höcke, und der damalige Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen-Anhalt der Klägerin, André Poggenburg, die Sammlungsbewegung „Der Flügel“ innerhalb der Klägerin. Sie unterzeichneten gemeinsam mit 21 weiteren Amts- und Funktionsträgern der Klägerin die sog. „Erfurter Resolution“. Unter den Erstunterzeichnern waren der frühere Co-Bundes- und Fraktionssprecher der Klägerin, Dr. Alexander Gauland, die Landtagsabgeordneten Baum, Bessin, Kalbitz, Möller, Tillschneider, Weise und der damalige Landesvorsitzende und spätere Bundesvorsitzende der JA Frohnmaier. Gemäß der Resolution sehen die Erstunterzeichner „im vollen Einsatz der AfD für eine grundsätzliche politische Wende in Deutschland die eigentliche Daseinsberechtigung der Partei“. Dieser Einsatz werde zu „echten Auseinandersetzungen mit den Altparteien, den Medien und den Trägern der verheerenden Gesellschaftsexperimente führen“. Von den Funktionsträgern der Partei werde verlangt, diese Auseinandersetzung mutig und wahrhaftig zu führen. In der Erklärung wird die Sorge geäußert, dass sich die Klägerin ohne Not mehr und mehr dem etablierten Politikbetrieb anpasse: „dem Technokratentum, der Feigheit und dem Verrat an den Interessen unseres Landes.“
4In einer weiteren Erklärung vom 24. Juni 2016 beschreibt sich der Flügel als „zentral organisierter, loser Verbund von Mitgliedern“ der Klägerin im gesamten Bundesgebiet. Die organisatorische Arbeit des Flügels soll demgemäß maßgeblich vom Kreisverband Nordhausen-Eichsfeld-Mühlhausen (Nordthüringen) getragen und dort konzentriert werden.
5Seit dem Jahr 2015 fanden jährliche Veranstaltungen unter dem Namen „Kyffhäusertreffen“ mit stetig steigenden Besucherzahlen statt (350 im Jahr 2015, 1.000 im Jahr 2018).
6Am 3. September 2018 wurden die Landesverbände Bremen und Niedersachen der satzungsmäßigen Jugendorganisation der Klägerin „Junge Alternative“ (JA) zu Beobachtungsobjekten der jeweiligen Landesverfassungsschutzbehörden erklärt.
7Am 13. September 2018 beschloss der Bundesvorstand der Klägerin die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema einer möglichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz (nachfolgend Bundesamt) befasst. Ebenso beauftragte die Klägerin den Verfassungsrechtler Prof. Dr. Dietrich Murswiek mit der Erstellung eines Gutachtens zur Erarbeitung von Handlungsempfehlungen, um eine Beobachtung und Einstufung der Klägerin durch das Bundesamt zu verhindern.
8Der Präsident des Bundesamtes gab im Rahmen einer Pressekonferenz am 15. Januar 2019 bekannt, dass die Klägerin - als Ergebnis der Prüfung zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung bei der Klägerin und ihren Teilorganisationen auf der Grundlage eines behördeninternen Gutachtens (nachfolgend Gutachten I) - als „Prüffall“ bearbeitet werde.
9Dem Bundesamt lägen erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Politik der Klägerin vor. Diese seien nicht hinreichend verdichtet, um eine Beobachtung auch unter Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln einzuleiten. Die JA und die der Klägerin zugeordnete Sammlungsbewegung „Der Flügel“ würden hingegen bereits als Verdachtsfälle eingestuft. Hinsichtlich des Flügels um den Thüringer Landesvorsitzenden der Klägerin, Björn Höcke, lägen stark verdichtete Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich beim Flügel um eine extremistische Bestrebung handele. Das durch den Flügel propagierte Politikkonzept sei auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, insbesondere Muslimen, und politisch Andersdenkenden gerichtet. Es verletze die Menschenwürdegarantie sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Die Relativierung des historischen Nationalsozialismus ziehe sich zudem wie ein roter Faden durch die Aussagen der Flügel-Vertreter.
10Der Fortbestand eines organisch-einheitlichen Volkes werde vom Flügel als höchster Wert angesehen. Der einzelne Deutsche werde als Träger des Deutschtums wertgeschätzt. „Kulturfremde“ Nicht-Deutsche würden als nicht integrierbar gelten. Ihnen solle eine Bleibeperspektive konsequent verwehrt werden. Ziel des Flügels sei ein ethnisch homogenes Volk, welches keiner „Vermischung“ ausgesetzt sein solle.
11Dies werde durch flüchtlings- und muslimkritische Positionen untermauert. Die Staatsbürgerschaft von muslimischen Deutschen werde infrage gestellt. Ihnen drohten bei konsequenter Umsetzung der Positionen des Flügels Massenabschiebungen. Mittels einer aggressiven Wortwahl werde die von Migranten ausgehende Kriminalität krass überzeichnet. Befürworter einer liberalen Migrationspolitik würden zudem massiv entwürdigend beschimpft. Ihre politische Haltung werde etwa mit einer Geisteskrankheit gleichgesetzt.
12Vertreter des Flügels wendeten sich auch gegen das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Demokratische Entscheidungen würden nur akzeptiert, wenn diese zu einer Regierungsübernahme durch die Klägerin führten. Im Falle des Scheiterns der Klägerin gelte: „Danach kommt nur noch: Helm auf.“ Einzelne Mitglieder des Flügels wiesen zudem Bezüge zu bereits als extremistisch eingestuften Organisationen auf.
13Auf den Eilantrag der Klägerin untersagte das VG Köln dem Bundesamt mit Beschluss vom 26. Februar 2019 im Wege der einstweiligen Anordnung, in Bezug auf die Klägerin zu äußern oder verbreiten, diese werde als „Prüffall“ bearbeitet (13 L 202/19). Gegenstand des Eilverfahrens war (allein) die Einstufung der Klägerin als Prüffall und die Bekanntgabe dieser Einstufung. Die Einstufung des Flügels (und der JA) war mangels entsprechenden Antrags nicht Gegenstand des Verfahrens.
14Mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 forderte die Klägerin das Bundesamt auf, es zu unterlassen, den Flügel als Verdachtsfall einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen, sowie es zu unterlassen, Daten über den Flügel als „Verdachtsfall“ zu sammeln, zu speichern und/oder gespeichert zu lassen.
15Am selben Tag gab das Bundesamt bekannt, dass es alle „Mitglieder“ des Flügels (ca. 7.000 Personen) in die Kategorie „Rechtsextremismus“ einordne.
16Mit Schreiben vom 6. Januar 2020 lehnte das Bundesamt gegenüber der Klägerin ab, die geforderte Unterlassungserklärung abzugeben.
17Die Klägerin hat am 13. Januar 2020 Klage erhoben.
18Am 12. März 2020 hat das Bundesamt ein weiteres Gutachten „zur Einstufung des ‚Flügel‘ als erwiesen extremistische Bestrebung“ (nachfolgend Gutachten II) erstellt. Die bisherigen verfassungsfeindlichen Anhaltspunkte hätten sich zur Gewissheit verdichtet. Das Verdachtsfallstadium sei hin zu einer gesichert rechtsextremistischen Bestrebung überschritten worden. Dies gründe sich im Wesentlichen auf den signifikanten Bedeutungszuwachs der maßgeblichen Träger extremistischer Bestrebungen im Flügel, namentlich der zentralen Exponenten Björn Höcke und Andreas Kalbitz, und der von ihnen demzufolge noch stärker ausgehenden Prägekraft für den Personenzusammenschluss. Eine Verdichtung ergebe sich zudem aus der quantitativen Verfestigung der bereits im Gutachten I herangezogenen Belege, von denen sich der Flügel nicht nur nicht distanziert habe, sondern die er vielmehr reproduziert und mit beachtlicher Reichweite weiter verbreitet habe. Die aggressive und kompromisslose Zurückweisung jeder parteiinternen Kritik an Positionen des Flügels stellten ebenfalls einen Verdichtungsfaktor dar. Es sei eine organisatorische Weiterentwicklung festzustellen, worauf offizielle Kontaktstellen - wie der eigenen Webseite, einem YouTube-Kanal, einer Facebook-Seite und einem Onlineshop - , die Etablierung regionaler Ansprechpartner (sogenannte Obleute) und die abgestufte Verleihung von Auszeichnungen für besondere Verdienste um den Flügel hindeuteten. Im Jahr 2019 habe es drei herausragende Landtagswahlergebnisse ostdeutscher Landesverbände gegeben, die zu einem weiteren Bedeutungszuwachs beigetragen hätten. Der maßgebliche Protagonist des Flügels Höcke habe jeden Ansatz einer inhaltlich kritischen Auseinandersetzung mit den Positionen des Flügels innerhalb der Klägerin als „politische Bettnässerei“ diffamiert. Relativierungen einzelner seiner Aussagen seien taktisch motiviert und stellten reine Schutzbehauptungen dar.
19Das dem Flügel zuzuordnende Personenpotenzial könne angesichts fehlender formeller Mitgliedschaft nur qualifiziert geschätzt werden, wobei als untere Grenze, nicht zuletzt auf Grundlage parteieigener Angaben, ein Richtwert von mindestens 20 % der Gesamtmitglieder und damit rund 7.000 Personen anzusetzen seien. Diese Schätzung korrespondiere nicht mit dem Anspruch, den betroffenen Personenkreis trennscharf vollständig zu benennen oder in seiner Gesamtheit zu erfassen. Personenbezogene Speicherungen erfolgten nur auf Basis einer Einzelfallprüfung, bei der anhand definierter Indikatoren eine Zuordnung schlüssig verifiziert werden könne. Die Zahl beschreibe quantitativ die Reichweite und das Mobilisierungspotenzial des Flügels.
20Zur Begründung der Klage trägt die Klägerin vor, dass sie klagebefugt sei. Durch die Einstufung des Flügels sei auch die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Dies gelte hier insbesondere, da das Bundesamt einen organisatorisch nicht abgrenzbaren Teil der Klägerin beobachte, der mangels Rechtspersönlichkeit nicht selbst klagebefugt sei. Zudem diene die Beobachtung des Flügels auch der Einschätzung, ob die Klägerin selbst verfassungsfeindlich agiere und beobachtet werden könne. Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin sei auch nicht nach der Auflösung des Flügels entfallen, da die Einstufung und Beobachtung vom Bundesamt noch nicht aufgehoben worden sei.
21Die Klägerin meint, sie hätte vor der Einstufung durch das Bundesamt angehört werden müssen. Es fehle überdies eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die Handlungen des Bundesamtes. Die Handlungen des Bundesamtes kämen - insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Medienlandschaft - einem Parteienverbot gleich, daher müssten auch die für ein Parteiverbot geltenden Maßstäbe angelegt werden. Gem. Art. 21 Abs. 4 GG liege die Entscheidungskompetenz allein beim Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsschutzgesetz sei auf politische Parteien daher nicht anwendbar. Das Bundesamt missachte zudem die Anforderungen der EMRK und der Venedig-Kommission betreffend Parteiverbote.
22Die Vorgaben der §§ 3 und 4 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) lägen ebenfalls nicht vor.
23Bei dem Flügel handele es sich schon nicht um einen Personenzusammenschluss im Sinne des Gesetzes. Es habe sich nie um eine satzungsmäßige Untergliederung der Klägerin gehandelt. Zudem habe sich der Flügel zum 30. April 2020 aufgelöst. Auch seien Fortsetzungsaktivitäten nicht festzustellen.
24Es gebe keine Erklärungen des (ehemaligen) Flügels, die Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung darstellten. Die Klägerin grenze sich mit einer Unvereinbarkeitsliste bewusst von extremistischen Organisationen ab. Der Flügel propagiere keinen ethnischen Volksbegriff. Das Verständnis des Flügels schließe auch Zuwanderer ein, die sich dem deutschen Volk zugehörig fühlten. Dies sei maximal inklusiv und verfassungsrechtlich unbedenklich. Überdies sei auch die bloße Verwendung eines Volksbegriffs nicht relevant, da er nicht mit einem planvollen politischen Konzept verbunden sei und daher keine politischen Implikationen habe. Ob ein solches politisches Konzept gegen die Menschenwürde verstoße, hänge von der konkreten Ausgestaltung des Konzepts ab, nicht aber von einem gewissen Volksverständnis. Es komme auf den Willen an, verfassungsfeindliche Handlungen vorzunehmen. Dies sei beim Flügel aber nicht der Fall.
25Dem Gesetzgeber sei eine Bezugnahme auf ethnische oder kulturelle Kriterien - auch im Zusammenhang mit Fragen der Staatsangehörigkeit - ohnehin nicht fremd. Es sei ein rechtlich zulässiges politisches Ziel, sich dafür einzusetzen, dass eine bestehende Bevölkerungsstruktur im Wesentlichen erhalten bleibe, sofern Menschen nicht diskriminiert oder rechtlos gestellt würden. Gleiches gelte für die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft. Auch zähle etwa das Grundrecht auf Asyl nicht zu den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten unveränderlichen Grundrechten. Der Gebrauch von typischerweise von Rechtsextremisten verwendeten Vokabulars stelle auch (allein) keinen Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung dar. Die von der Beklagten beanstandeten Begriffe tauchten auch bei der Antifa oder einer UN-Studie („replacement migration“) auf.
26Ebenso sei polemische Kritik einer Oppositionspartei gegenüber den übrigen Parteien oder der Bundesregierung nicht sogleich Kritik am parlamentarischen Regierungs- oder Demokratiesystem. Den Äußerungen einzelner Parteimitglieder liege auch keine ausländer-, islam- oder muslimfeindliche Agitation zugrunde, die als hinreichend konkrete Anhaltspunkte einzustufen seien. Die Vertreter des Flügels äußerten sich insbesondere nicht pauschal abwertend über Ausländer. Dass männliche Zuwanderer im Zusammenhang mit Straftaten, bei denen Messer verwendet würden, überproportional häufig zu finden seien, werde durch die Polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt. Die Statistiken rechtfertigten zwar nicht den Vorwurf, jeder Migrant sei kriminell. Solche Vorwürfe seien aber auch nicht geäußert worden. Die Gleichsetzung des Islam mit Islamismus sei nicht per se unzulässig, da islamistische Elemente in islamischen Quellen enthalten seien. Nur weil der Islam abgelehnt werde, folge daraus nicht, dass jeder Mensch islamischen Glaubens abgelehnt werde.
27Die vom Bundesamt zitierten Äußerungen richteten sich auch nicht gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip. Insbesondere ergebe sich aus dem Begriff der „System“- oder „Kartellpartei“ nicht, dass das Mehrparteiensystem schlechthin angegriffen werde. Gleiches gelte für den Begriff der „Corona-Diktatur“. Dadurch werde die parlamentarische Demokratie nicht in Frage gestellt. Immer wieder seien Maßnahmen der Bundesregierung als offensichtlich verfassungswidrig aufgehoben worden, daher dürfe man dies - wenn auch überzogen - kritisieren.
28Die Äußerungen des ausgeschiedenen ehemaligen Co-Sprechers der Klägerin Meuthen seien vor dem Hintergrund zu sehen, dass er eine neue Partei gründen und daher der Klägerin schaden wolle. Er habe bereits vor Monaten angekündigt, aus familiären Gründen nicht mehr zur Wiederwahl anzutreten. Auch sei er in der Partei isoliert gewesen. Er versuche allein, sein Image zu retten. Die jetzigen Aussagen seien daher unglaubwürdig. Auch sei unklar, ob Meuthen mit der Beklagten gemeinsame Sache mache.
29Auch müsse die „Republikaner-Rechtsprechung“ zur Beurteilung herangezogen werden. Insbesondere sei auch bei der Verdachtsfall-Einstufung erforderlich, dass sich in der Partei ein einheitliches Bild hinsichtlich einer verfassungsfeindlichen Bestrebung ergebe. Das Bundesamt habe dies aber nicht dargelegt.
30Weiter habe die Klägerin Maßnahmen eingeleitet, um Entgleisungen einzelner Mitglieder entgegen zu treten. So seien Parteiordnungsverfahren durchgeführt worden. Insbesondere habe der von dem Bundesamt als führende Figur des Flügels eingestufte Andreas Kalbitz seine Parteimitgliedschaft verloren. Das Bundesamt habe ebenfalls die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin vom 18. Januar 2021 nicht angemessen gewürdigt. Diese sei auch von Björn Höcke unterschrieben worden und räume Missverständnisse über das Volksverständnis der Klägerin und des Flügels aus. Dass die Erklärung nicht taktisch motiviert sein könne, folge aus dem Umstand, dass es sich nicht um eine neue Positionierung handele, sondern um die Klarstellung einer bereits bestehenden Positionierung. Auch hätten mehrere von der Beklagten als Flügel-Anhänger eingeordnete Personen wie Björn Höcke, Andreas Kalbitz, Hans-Thomas Tillschneider, Thomas Weiß und Christian Blex weitere Klarstellungen abgegeben, die nicht berücksichtigt worden seien. Der Flügel sei im April 2020 letztlich auch tatsächlich aufgelöst worden.
31Das Bundesamt habe sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen und handele aus politischen Motiven. Die Innenministerin habe selbst in einer vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften Publikation veröffentlicht. Durch das Weiterleiten vertraulicher Schriftsätze an die Presse werde Druck auf Gericht und ehrenamtliche Richter aufgebaut. Das Gutachten III (s. dazu unten) sei manipuliert worden. Die Bundesregierung habe Einfluss genommen und der Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe an der Erstellung mitgewirkt.
32Das Bundesamt lege Aussagen der Mitglieder der Klägerin falsch aus. Man dürfe sich bei der Auslegung von Äußerungen nicht auf den Wortlaut beschränken. Es müsse vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) - insbesondere im Falle eines politischen Meinungskampfes - jeweils der Kontext beleuchtet werden. Lasse eine von mehreren Deutungen eine verfassungskonforme Auslegung zu, so habe die Beklagte diese Auslegung zugrunde zu legen. Äußerungen, die für sich genommen verfassungsrechtlich zulässig seien, könnten nicht gleichzeitig als Beleg für eine verfassungsfeindliche Bestrebung dienen.
33Das Bundesamt verkenne die Begriffe der Menschenwürde, der Demokratie und des Rechtsstaats. Auch könne nicht jede Äußerung eines jeden Mitglieds der Klägerin zugerechnet werden, wenn diese die Äußerung nicht gebilligt oder geduldet habe. Das Bundesamt habe dazu nicht substantiiert vorgetragen. Entgleisungen einzelner Anhänger reichten nicht aus. Erforderlich sei, dass die Partei von einer entsprechenden Grundtendenz beherrscht werde. Auch müssten verfassungsfeindliche Bestrebungen von einem direkten Vorsatz begleitet sein. Ergreife die Partei Maßnahmen, um Entgleisungen einzelner Mitglieder zu unterbinden, so entfalle der Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung. Das Bundesamt verkenne die Darlegungs- und Beweislast.
34Die Datensammlung des Bundesamtes stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der Klägerin auf informationelle Selbstbestimmung dar und unterliege daher einem Beweisverwertungsverbot. Die vom Bundesamt im Juni 2021 nachgelieferten Verwaltungsvorgänge seien zudem deshalb nicht verwertbar, da nicht mitgeteilt worden sei, welche Unterlagen für das Verfahren Relevanz hätten. Auch sei es ein Versäumnis des Bundesamtes, dass die Unterlagen dem Gericht - und damit der Klägerin - nicht schon früher übermittelt worden seien. Vor dem Hintergrund der jahrelangen Praxis der Beklagten, V-Leute schon vor der Beobachtung in Parteien einzuschleusen, sei es Aufgabe der Beklagten, darzulegen, welche Aussagen von Personen getätigt worden seien, die im Einflussbereich des Staates stünden.
35Die Beklagte überschätze auch die Größe des Flügels. So könne die Beklagte namentlich nur 44 Personen benennen, die sie zum Flügel zähle. Ohne ausreichende Faktenbasis stelle die Beklagte die Zahl von 7.000 Mitgliedern in den Raum. Auch verfüge der Flügel über keinen großen Einfluss. Bei den von der Beklagten zitierten Landtagswahlergebnissen habe die Klägerin Stimmenverluste erlitten. Höcke und Kalbitz hätten kein Direktmandat erringen können. Kalbitz sei bis zur Nichtigerklärung seiner Mitgliedschaft der einzige Flügel-nahe Politiker im Bundesvorstand der Klägerin gewesen. Beim Bundesparteitag im November 2020 habe sich kein Mitglied des ehemaligen Flügels durchsetzen können. Auch sonst spiele der Flügel in den Gremien der Partei keine Rolle. Die aus der Klägerin ausgeschlossenen Kalbitz und Pasemann besäßen keinen Rückhalt in der Gesamtpartei.
36Die Einstufung und Beobachtung sei darüber hinaus unverhältnismäßig. Dies folge bereits aus dem Umstand, dass der Flügel bereits am 15. Januar 2019 als Verdachtsfall eingestuft und der Prüfzeitraum bis zur Höherstufung überschritten worden sei. Nahezu alle vorgelegten Aussagen stammten aus dem Zeitraum vor der Einstufung zum Verdachtsfall. Auch sei damit im aktuellen Medienzeitalter ein so gravierender Eingriff in die Rechte der Klägerinnen als politische Partei verbunden, dass dieser nicht gerechtfertigt werden könne, zumal auf Seiten des Bundesamtes nur ein Verdacht vorliege. Auch bei anderen Parteien - insbesondere der CSU - fänden sich im Übrigen vergleichbare Äußerungen zur Begrenzung der Zuwanderung. Es liege zudem eine Ungleichbehandlung gegenüber der Linkspartei vor.
37Auch die Hochstufung des Flügels zur erwiesen extremistischen Bestrebung sei rechtswidrig. Dies folge bereits daraus, dass die ursprüngliche Einstufung rechtswidrig gewesen sei. Darüber hinaus habe die Beklagte keine weitergehenden Anhaltspunkte angeführt, die eine Hochstufung rechtfertigten, zumal sich der Flügel aufgelöst habe. Die Behauptung, der Flügel sei weiterhin aktiv, sei haltlos. Dies zeigten auch die aktuellen Informationen der Landesverfassungsschutzbehörden.
38Die Öffentlichkeit habe über die Einstufung auch nicht unterrichtet werden dürfen. Eine Verdachtsberichterstattung sei unzulässig. Es liege ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht vor.
39Die unter dem 3. Januar 2022 dem Gericht vorgelegte Materialsammlung sei rechtswidrig angelegt worden, da sie der gegenüber dem Gericht abgegebenen Stillhaltezusage widerspreche. Auch zeige die Datensammlung, dass es sich nur um Ausreißer handele. Auch seien die genannten Äußerungen nicht kontextualisiert und falsch interpretiert worden. Schließlich habe der Bundesvorstand die betroffenen Parteimitglieder zu schriftlichen Stellungnahmen aufgefordert, diese intern ausgewertet und im Anschluss Parteiordnungsmaßnahmen ergriffen. So sei etwa beschlossen worden, gegen die Mitglieder Gebhardt und Geng ein Parteiausschlussverfahren zu betreiben, gegen Frau Dr. Baum eine Parteiordnungsmaßnahme zu prüfen und Björn Höcke zu einer Präsenzsitzung des Bundesvorstands zu laden, um sich insbesondere zu der Aussage „Alles für Deutschland“ zu erklären. Hinsichtlich der „Bayern-Chatgruppe“ seien die Mitglieder Ostermair und Huber aus der Klägerin ausgetreten. Gegen die Mitglieder Hock und Cyron seien schriftliche Abmahnungen beschlossen und umgesetzt worden. Sowohl der Bundes- als auch der Landesvorstand Bayern hätten sich von den Äußerungen distanziert.
40Die Klägerin beantragt,
411. festzustellen, dass die Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als Verdachtsfall durch das Bundesamt für Verfassungsschutz vom 16. Januar 2019 bis zum 11. März 2020 rechtswidrig war,
2. festzustellen, dass die öffentliche Bekanntgabe der Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als Verdachtsfall durch das Bundesamt für Verfassungsschutz vom 16. Januar 2019 bis zum 11. März 2020 rechtswidrig war,
3. die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen den „Flügel“ als „gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen,
hilfsweise,
48die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, den „Flügel“ aufgrund der Sachlage im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung und der Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als „gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen,
494. die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, durch das Bundesamt für Verfassungsschutz öffentlich bekanntzugeben, dass der „Flügel“, als „gesichert (rechts‑) extremistische Bestrebung“ eingeordnet, beobachtet, behandelt, geprüft und/oder geführt wird,
hilfsweise,
52die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, aufgrund der Sachlage im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung und der Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz öffentlich bekanntzugeben, dass der „Flügel“ als „gesichert (rechts-) extremistische Bestrebung“ eingeordnet, beobachtet, behandelt, geprüft und/oder geführt wird,
535. der Beklagten für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das Verbot der Ziffern 3. und/oder 4. ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 10.000 Euro anzudrohen,
6. festzustellen, dass die Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als „gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ am 12. März 2020 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war,
7. festzustellen, dass die öffentliche Bekanntgabe der Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als „gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ am 12. März 2020 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war,
8. festzustellen, dass die Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als „Verdachtsfall“ am 15. Januar 2019 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war,
9. festzustellen, dass die öffentliche Bekanntgabe der Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als Verdachtsfall am 15. Januar 2019 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war,
10. festzustellen, dass die Einstufung und/oder Einordnung und/oder Beobachtung und/oder Behandlung und/oder Prüfung und/oder Führung des „Flügels“ als „gesichert (rechts)extremistische Bestrebung“ im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt,
66die Klage abzuweisen.
67Sie trägt zur Begründung vor, dass eine Anhörung der Klägerin nicht erforderlich gewesen sei. Die Klage sei hinsichtlich der Einstufung zum Verdachtsfall bzw. zur erwiesen extremistischen Bestrebung unzulässig, da es sich dabei um rein behördeninterne Maßnahmen handele, die mangels Außenwirkung nicht angegriffen werden könnten. Erst wenn an die behördeninterne Einstufung Maßnahmen im Außenverhältnis geknüpft würden, sei Rechtsschutz gegen diese Maßnahmen möglich.
68Für eine Beobachtung des Flügels reichten vereinzelte tatsächliche Anhaltspunkte aus. Wie gewichtig diese Anhaltspunkte sein müssten, ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Nicht erforderlich sei insbesondere, dass die beobachtete Partei von einer verfassungsfeindlichen Grundtendenz beherrscht werde. Dieses Erfordernis gelte nur für Parteiverbote. Die Beobachtung und Einstufung des Flügels sei mit einem Parteiverbot aber nicht gleichzusetzen. Abstufungen hinsichtlich der Art und Intensität der Beobachtung ergäben sich nur aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Sobald erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung vorlägen, erlaube § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG die Sammlung und Auswertung diesbezüglicher Informationen. Im Rahmen einer Prüfungsphase werde auf Grundlage offenen Materials geprüft, ob sich die Anhaltspunkte erhärteten oder nicht. Sei das der Fall, so erfolge eine Einordnung als Verdachtsfall und Beobachtungsobjekt, welches bei Vorliegen weiterer gesetzlicher Voraussetzungen unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel beobachtet werden dürfe, um die Bestrebungen weiter aufzuklären. Bei der Auslegung einzelner Äußerungen seien nicht äußerungs- und strafrechtliche Maßstäbe anzuwenden, denn es gehe nicht darum, ob hinsichtlich einzelner Äußerungen Unterlassungs- oder Widerrufsansprüche bestünden oder diese gar strafbar seien. Für die Feststellung einer Verfassungsfeindlichkeit werde nicht vorausgesetzt, dass die in Rede stehenden Handlungen und Äußerungen illegal oder strafbar seien.
69Es existierten zahlreiche Äußerungen des Flügels, die tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung darstellten. Es handele sich vornehmlich um Äußerungen von führenden Flügel-Vertretern. Diese seien dem Flügel daher auch ohne weiteres zuzurechnen.
70Der Flügel sei auch ein taugliches Beobachtungsobjekt. Der Begriff des Personenzusammenschlusses sei bewusst weit gewählt worden, um alle Personenmehrheiten unabhängig von ihrer Verfasstheit und dem Vorhandensein einer organisatorischen Struktur erfassen zu können. Es komme daher nicht darauf an, dass es sich bei dem Flügel nicht um eine satzungsmäßige oder offiziell anerkannte Teilorganisation der Klägerin handele. Ebenfalls sei unerheblich, ob dem Flügel angehörige Mitglieder wechselten oder ob ihre genaue Anzahl und Identität bekannt sei. Der Flügel verfüge schätzungsweise über 7.000 Mitglieder. Dies ergebe sich aus den Zitaten einiger Mitglieder des Flügels und der Klägerin. Die gemeinsame Zweckverfolgung folge bereits aus der sogenannten „Erfurter Resolution“ vom März 2015 als der erklärten Gründungsurkunde des Flügels. Der Flügel habe das Ziel, seine personellen und inhaltlichen Vorstellungen innerhalb der Klägerin durchzusetzen. Er verfüge auch über eine organisatorische Struktur. Es habe jährliche Kyffhäuser- und sonstige Treffen gegeben. Es hätten Obleute in den Landesverbänden existiert. Der Flügel habe eine eigene Homepage und einen Onlineshop betrieben und ein eigenes Logo verwendet. Überdies habe der Bundesvorstand der Klägerin im März und April 2020 die Auflösung des Flügels gefordert. Eine Auflösung setze aber das Bestehen einer solchen Organisation voraus.
71Der Flügel bleibe auch taugliches Beobachtungsobjekt nach seiner offiziellen Auflösung im April 2020. Es müsse nämlich geklärt werden, ob der Flügel tatsächlich aufgelöst und seine Existenz beendet sei oder ob die Auflösung lediglich formal erfolgt sei und die Bestrebungen in Wirklichkeit fortgeführt würden. Mit der Selbstauflösung des Flügels seien nämlich dessen bisherige Protagonisten nicht aus der Klägerin ausgeschieden. Es könne auch keine Abkehr von den bisherigen Vorstellungen und Positionen festgestellt werden. Es gebe vielmehr einschlägige Äußerungen von Seiten der vormaligen Protagonisten des Flügels, ihre Vorstellungen innerhalb der Gesamtpartei weiterzuverfolgen. Dies sei auch von dem Bundesvorstand der Klägerin begrüßt worden. Es lägen darüber hinaus auch bereits Belege für fortgesetzte Aktivitäten des Flügels vor.
72Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse und auch die Unvereinbarkeitsliste der Klägerin ließen keine Rückschlüsse zu, dass der Flügel keine verfassungsfeindliche Bestrebung sei. Denn es sei von Seiten diverser Repräsentanten des Flügels wiederholt der Vorstoß unternommen worden, die Unvereinbarkeitsliste abzuschaffen.
73Eine der zentralen politischen Vorstellungen und Propagandainhalte des Flügels sei die Vorstellung, dass das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand erhalten werden müsse und ethnisch „Fremde“ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben müssten. Es werde ein Konzept der Erhaltung der „ethnisch-kulturellen Identität“ des deutschen Volkes verfolgt. Dabei stelle das „kulturelle“ Identitätsmoment einen allenfalls untergeordneten, wenn nicht sogar vorgeschobenen Faktor dar, während es tatsächlich um die „ethnische“ Identität gehe. Das von dem Flügel propagierte Volksverständnis stehe im Widerspruch zu dem Begriff des Volkes im Grundgesetz. Es ziele darauf ab, das grundgesetzliche Verständnis des deutschen Volkes durch einen hiervon abweichenden, engeren, und zwar ethnisch verstandenen Volksbegriff zu ersetzen unter Ausklammerung der ethnisch nicht diesem Volk zugerechneten Menschen ohne Rücksicht auf deren Staatsangehörigkeit. Eine solche Sichtweise verstoße gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Mehrere Verwaltungsgerichte hätten bereits das „ethnokulturelle“ Volksverständnis der Identitären Bewegung - das letztlich dem Volksverständnis des Flügels entspreche - als einen Anhaltspunkt für verfassungsfeindliche Bestrebungen gewertet. Entgegen dem von dem Flügel vertretenen Verständnis, kenne das Grundgesetz keine Differenzierung zwischen den Begriffen „Volk“ und „Staatsvolk“. Das Grundgesetz verwende diese Begriffe vielmehr synonym. Es bestünden nach dem Konzept des Flügels tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass dieser Zuwanderung nach ethnischen, völkisch-abstammungsmäßigen und letztlich rassetypischen Kriterien steuern wolle. Der Flügel führe auch die Kultur letztlich wiederum auf die Ethnie zurück. Verstärkt werde dies dadurch, dass der Flügel die „ethnisch-kulturelle Identität“ des Volkes mittels Begriffen und Beschreibungen diskutiere, die in rechtsextremistischen Kreisen als Signalwörter gebraucht würden. Dabei würden insbesondere die Begriffe „großer Austausch“, „Umvolkung“, „Volkstod“ und die Parole „Deutschland den Deutschen“ verwendet.
74Anhaltspunkte für das Konzept einer ethnisch-kulturellen Identität ergäben sich aus den Verlautbarungen des Flügels. In mehreren vom Flügel selbstverantworteten Verlautbarungen seien der „Umvolkungs-“ und der „Volkstod“-Vorwurf erhoben worden. Eine große Zahl von Äußerungen führender Repräsentanten des Flügels brächten in Einklang mit den Verlautbarungen des Flügels eindeutig ein völkisch-ethnisches Volksverständnis zum Ausdruck, ohne dass sich der Flügel hiervon distanziert habe. Insbesondere der führende Kopf des Flügels, Björn Höcke, vertrete dieses Volksverständnis. Er prangere die Auflösung Deutschlands und ein Verschwinden des deutschen Volkes an. In seinem Gesprächsband „Nie zweimal in denselben Fluss“ benutze er die Formulierung vom „bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“. Auch seien Bezugnahmen auf nationalsozialistische Vorstellungen zu finden. Die Vermischung verschiedener Ethnien werde als „Abstieg“ begriffen. Schwierigkeiten bei der Integration von Zuwanderern würden nicht an deren kultureller Prägung festgemacht, sondern die Ethnie als Hindernis für den Eingang in das Volk angesehen. Falls der Erhalt eines ethnisch homogenen Volkes nicht möglich sei, solle nach den Vorstellungen Höckes ein „Rückzug autochthoner Deutscher in ländliche Gebiete“ helfen, um dort als „neue Keimzelle des deutschen Volkes“ zu überdauern, bis eine „Rückeroberung“ möglich sei. Soweit Zuwanderung überhaupt akzeptiert werde, fordere er eine vollständige Assimilierung und damit die Aufgabe der religiösen und kulturellen Prägung. Damit werde das mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Zumutbare überschritten. Höcke warne vor der „Afrikanisierung Europas“ und differenziere zwischen zwei Menschentypen: dem „afrikanischen Ausbreitungstypus“ und dem „europäischen Platzhaltertyp“. Damit übertrage er in der Tierwelt gebräuchliche Begriffe auf Menschen und stelle Afrikaner auf eine Stufe mit niedrigeren Lebewesen.
75Auch fänden sich bei anderen führenden Flügel-Vertretern Äußerungen, die das ethnisch-kulturelle Volksverständnis teilten, die „Auflösung“ des deutschen Volkes beklagten und deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund nicht als vollwertige Mitglieder des deutschen Volkes ansähen.
76Die Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis entfielen auch nicht durch die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin vom 18. Januar 2021. Es dränge sich der Verdacht auf, dass die Erklärung taktisch motiviert sei und überdies keine wirkliche Abkehr von dem bisher vertretenen Volksverständnis bedeute. Zwar werde dort das „deutsche Staatsvolk“ als Summe aller Personen bezeichnet, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand habe. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk sei von der ethnisch-kulturellen Identität rechtlich unabhängig. In Ziffer 2 der Erklärung werde sodann aber eine Unterscheidung zum „Deutschen Volk“ gemacht, welches langfristig erhalten werden wolle. Damit suggeriere der Flügel, dass das „deutsche Staatsvolk“ ein rechtliches Gebilde, wohingegen das „deutsche Volk“ ein dem rechtlichen Konstrukt vorausliegendes tatsächliches und ethnisch-kulturell bestimmtes Gebilde sei. Auch die übrigen Formulierungen verstärkten dieses Verständnis. Das von dem Flügel formulierte politische Ziel, „dem deutschen Staatsvolk auch eine deutsche kulturelle Identität über den Wandel der Zeit erhalten“, laufe darauf hinaus, die Einbürgerungsvoraussetzungen so zu gestalten, dass das „Staatsvolk“ dem „deutschen Volk“ möglichst entspreche und es nicht zu viele Abweichungen gebe.
77Auch zeigten zahlreiche Äußerungen nach Unterzeichnung der Erklärung, dass der Flügel an seinem Verständnis und der ausländerfeindlichen Agitation festhalte.
78Der weitere Einwand der Klägerin, die bloße Verwendung eines Begriffes sei verfassungsschutzrechtlich irrelevant, wenn hieran nicht politische Forderungen, Ziele und Konzepte geknüpft seien, gehe fehl. Denn der Flügel und seine Repräsentanten propagierten in ihren Verlautbarungen ein mit der Verfassung nicht zu vereinbarendes Volksverständnis, würben um Unterstützung und nutzten dieses Konzept als Grundlage für ihre fortwährende Kritik an der Bundesregierung. Der Flügel sei überdies eine Teilmenge der Klägerin und damit Teil einer politischen Partei. Er wolle daher seinem Wesen nach Einfluss auf die Gesamtpartei und auf diesem Wege auf Parlamente und Gesetzgebung nehmen.
79Darüber hinaus sei eine ausländerfeindliche Agitation zu erkennen. In den Reihen des Flügels fänden sich Forderungen, die darauf abzielten, Ausländern einen möglichst ungünstigen Rechtsstatus zuzuweisen und insbesondere Flüchtlinge weitestgehend rechtlos zu stellen. Es gebe zahlreiche Äußerungen, mit denen Migranten pauschal verunglimpft, verächtlich gemacht und in der Folge als minderwertig und vor allem als kriminell herabgewürdigt würden. Migranten würden als „Invasoren“ und existenzielle Bedrohung des deutschen Volkes angesehen. Es werde das Ziel der „Remigration“ ausgegeben. Es sei auch insbesondere eine islam- und muslimfeindliche Agitation zu erkennen. Eine freie und gleichberechtigte Religionsausübung werde abgelehnt, Muslimen werde nur ein untergeordneter Status eingeräumt. Auch werde unter dem Begriff der „De-Islamisierung“ das Ziel ausgegeben, Muslime aus Deutschland und Europa zu vertreiben.
80Es sei auch eine antisemitische Agitation festzustellen, die deutliche Anhaltspunkte für eine Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG liefere.
81Das Verständnis des Flügels vom Individuum im Verhältnis zum Volk beeinträchtige die politische und gesellschaftliche Stellung des einzelnen in menschenwürdewidriger Weise.
82Ferner lägen auf Seiten des Flügels tatsächliche Anhaltspunkte für gegen die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und das Rechtsstaatsprinzip gerichtete Bestrebungen vor. Die fortwährende pauschale Agitation gegen Muslime gefährde die demokratische Gleichheit. Auch existierten Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche Demokratie gerichtete revisionistische Haltung. Der Staat und die sie tragenden Parteien würden verunglimpft. Vertreter des Flügels schenkten dem staatlichen Gewaltmonopol nicht in vollem Umfang Beachtung und riefen zum gewaltsamen „Widerstand“ auf.
83Im Laufe des Klageverfahrens habe sich im Rahmen der weiteren Beobachtung ergeben, dass sich die Anhaltspunkte dergestalt verdichtet hätten, dass nunmehr hinsichtlich des Flügels von einer gesichert extremistischen Bestrebung ausgegangen werden könne.
84Die tatsächlichen Anhaltspunkte entfielen auch nicht durch das Ergreifen von Parteiordnungsmaßnahmen der Klägerin gegen (ehemalige) Mitglieder des Flügels. Denn es komme vorliegend auf die Bewertung des Flügels und nicht auf die der Klägerin an. Auch gehe der Einwand der Klägerin fehl, der Flügel verfüge nicht über einen großen Einfluss in der Klägerin. Denn auch dies gehe am Streitgegenstand vorbei.
85Überdies verfüge der Flügel über einen merkbaren Einfluss auf die Klägerin. Dies sehe offensichtlich auch die Klägerin so, da sie die Auflösung des Flügels verlangt habe. Dies ergebe aber nur dann einen Sinn, wenn dieser nicht nur von untergeordneter Bedeutung sei. Zudem seien die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern keineswegs als Niederlage, sondern als Erfolg verstanden worden. Die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Klägerin seien knapp. Die Vertreter des Flügels seien bei den Vorstandswahlen im November 2020 nur denkbar knapp gescheitert. Schließlich zeige die sinkende Machtposition des (ehemaligen) Co-Vorsitzenden der Klägerin Meuthen, dass sich der Flügel mehr und mehr durchsetze und bei der Klägerin wachsenden Einfluss habe. Das zeige sich auch durch Sympathiebekundungen beim Vorstand der Klägerin gegenüber dem Flügel und dessen Protagonisten.
86Im Übrigen sei die Einstufung des Flügels zu Recht erfolgt, da die erforderlichen tatsächlichen Anhaltspunkte bestünden. Auch sei inzwischen erwiesen, dass der Flügel eine extremistische Bestrebung darstelle. Dies führe auch dazu, dass das Bundesamt diesbezügliche Informationen sammeln und auswerten dürfe. Eine zeitliche Obergrenze für die Einstufung des Flügels als Verdachtsfall und seine Beobachtung existiere nicht. Es sei vielmehr Aufgabe des Verfassungsschutzes, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten, solange tatsächliche Anhaltspunkte bestünden.
87Die Einschätzung des Bundesamtes werde durch zahlreiche Äußerungen aus der jüngeren Zeit bestätigt. Der Einfluss des formal aufgelösten Flügels werde auch von dem im Laufe des Klageverfahrens aus der Klägerin ausgetretenen ehemaligen Co-Bundessprecher Jörg Meuthen attestiert. Dieser habe versucht, den Einfluss des Flügels zu begrenzen, sei dabei aber letztlich gescheitert. Er habe seinen Rücktritt und Austritt aus der Klägerin damit begründet, dass es in der Gesamtpartei eine zunehmende Radikalität gebe, nicht wenige Parteimitglieder hätten eine tiefe Verachtung für Andersdenkende und die etablierten und bewährten Mechanismen der parlamentarischen Demokratie. Die vom Flügel geprägten Ost-Landesverbände prägten die Partei immer stärker. Diese stünden nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. In einzelnen Landesverbänden existierten totalitäre Tendenzen. Der Flügel sei dominanter als ursprünglich von ihm angenommen. Seine Bemühungen, Rechtsextremisten aus der Partei auszuschließen, seien auf immense Widerstände getroffen. Zuletzt habe er im Vorstand der Klägerin keine Mehrheit dafür gehabt, ein Mitglied auszuschließen, das sich als „freundliches Gesicht des Nationalsozialismus“ bezeichnet habe.
88Überdies dürfe das Bundesamt die Öffentlichkeit gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG über die Einstufung des Flügels als „Verdachtsfall“ und als gesichert rechtsextremistische Bestrebung informieren. Der Verfassungsschutz als Instrument der wehrhaften Demokratie diene als Frühwarnsystem hinsichtlich Gefährdungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Information der Öffentlichkeit solle die politische Auseinandersetzung mit der betreffenden Bestrebungen ermöglichen. Die Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden bezwecke, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Optimierungen im Vorfeld einer Gefährdung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise entgegenzuwirken. Erforderlich sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die jeweils vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte nach Gewicht und Dichte hinreichend seien, die betreffende Berichterstattung auch mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile zu rechtfertigen. Solche hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte lägen hier vor. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit sei auch verhältnismäßig. Etwaige mögliche Nachteile auf Seiten der Klägerin träten vorliegend hinter das öffentliche Informationsinteresse zurück. Die Klägerin sei im Bundestag, in sämtlichen Landtagen, im Europäischen Parlament sowie einer Vielzahl von Kommunalparlamenten vertreten und erziele dabei teils beträchtliche Stimmenanteile. Daher bestehe ein erhebliches und überwiegendes Interesse daran, die Öffentlichkeit über das Bestehen von tatsächlichen Anhaltspunkten für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen des Flügels als Teil der Klägerin zu unterrichten. Auch habe die Klägerin das öffentliche Informationsinteresse selbst angefeuert. Funktionäre und Gremien der Klägerin hätten wiederholt an die Öffentlichkeit getragen, dass jedenfalls einzelne Personen und Gruppierungen innerhalb der Klägerin vom Bundesamt als extremistisch angesehen oder jedenfalls diesbezügliche Anhaltspunkte gesehen würden. Die Klägerin sei daher nicht unversehens und überraschend mit einer Einstufung durch das Bundesamt konfrontiert worden, sondern habe zuvor selbst eben diese Diskussion in die Öffentlichkeit getragen. Auch seien Art und Weise der Medieninformation angemessen gewesen. Sie sei inhaltlich zutreffend, Sprache und Darstellungsweise seien sachlich und neutral gehalten und auf die Mitteilung der wesentlichen Formalitäten beschränkt.
89Der Vorstand der Klägerin hat am 20. März 2020 mehrheitlich beschlossen:
90„Der Bundesvorstand erwartet als Ergebnis des morgigen ‚Flügel‘-Treffens eine Erklärung darüber, dass sich der informelle Zusammenschluss ‚Flügel‘ bis zum 30.04.2020 auflöst.“
91Zur Umsetzung dieser Forderung hat der Vorstand der Klägerin am 6. April 2020 einen weiteren Beschluss gefasst, in dem der Flügel zu konkreten Schritten aufgefordert wurde:
921) zu erklären, dass alle Obleute (Landesbeauftragten) abberufen und diese Strukturen aufgelöst sind;
932) die Logonutzung „Der Flügel“ zu beenden und alle eingetragenen und/oder beantragten Wort- und/oder Bildmarken an eine vom Bundesvorstand beauftragte Markenrechts-Kanzlei zu übertragen;
943) die Webseite(n) des „Flügels“ abzuschalten;
954) den „Flügel“-Onlineshop zu schließen sowie
965) die „Flügel“-Facebookseite(n) sowie - falls vorhanden, ebenso Instagram und/oder Twitter-Accounts - zu beenden und die Admin-Rechte soweit möglich an die Bundesgeschäftsstelle zu übertragen.
97In einem Schreiben haben sich Björn Höcke und Andreas Kalbitz bei Facebook an die „Freunde des Flügels“ gewandt:
98„Wir fordern alle, die sich der Interessensgemeinschaft angehörig fühlen, auf, bis zum 30. April ihre Aktivitäten im Rahmen des 'Flügels' einzustellen.[...] Grundsätzlich kann nicht aufgelöst werden, was formal nicht existiert. Um die Einheit der Partei zu wahren und das Projekt einer politischen Alternative für Deutschland nicht zu gefährden, haben Björn Höcke und Andreas Kalbitz jedoch entschieden, diesem Wunsch nachzukommen.“
99Zum 30. April 2020 ist der Flügel formal durch Löschung des bestehenden Internetauftritts und aller Profile und Accounts in den sozialen Medien aufgelöst worden.
100Mit Beschluss des Vorstands der Klägerin vom 15. Mai 2020 wurde die Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz für nichtig erklärt. Begründet wurde dies damit, dass er nach Überzeugung der Mehrheit des Bundesvorstandes bei seiner Aufnahme die frühere Mitgliedschaft in der rechtsextremen und heute verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ verschwiegen habe.
101Die Klägerin hat am 18. Januar 2021 eine Erklärung „zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ abgegeben.
102Das Bundesamt hat unter dem 22. Februar 2021 ein Folgegutachten zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Klägerin (nachfolgend Gutachten III) erstellt.
103Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten - auch in den beigezogenen Verfahren 13 K 208/20, 13 K 325/21, 13 K 326/21, 13 L 104/21 und 13 L 105/21 - und die jeweils beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
104Entscheidungsgründe
105Die Klage ist nur teilweise zulässig und soweit zulässig in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
106I. Die Klage ist - mit Ausnahme des Klageantrags zu 10. - zulässig.
107Soweit sich die Klage auf Unterlassung richtet (Klageanträge zu 3. - 5.), ist die Leistungsklage die statthafte Klageart, im Übrigen (Klageanträge zu 1. - 2., 6. - 10.) die Feststellungsklage.
108Die Klägerin kann für die Sammlungsbewegung des Flügels klagen. Nach § 43 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann unter anderem die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.
109Hier geht es um das Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, denn die Klägerin begehrt jeweils die Feststellung, dass das Bundesamt nicht berechtigt war, die Maßnahmen vorzunehmen bzw. diese öffentlich zu verlautbaren.
110Es besteht auch zwischen der Klägerin und dem Bundesamt hinsichtlich des Flügels ein Rechtsverhältnis bzw. - soweit die Feststellung für die Vergangenheit begehrt wird - bestand ein solches. Unter einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO sind die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer Rechtsnorm (des öffentlichen Rechts) ergebenden Beziehungen einer Person zu einer anderen Person zu verstehen,
111vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 23. Januar 1992 ‑ 3 C 50.89 ‑, Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 89, 327 (329); BVerwG, Urteil vom 26. Januar 1996 ‑ 8 C 19.94 ‑, BVerwGE 100, 262 (264); BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 ‑ 8 C 38.09 ‑, BVerwGE 136, 75 (78) = juris Rn. 32 stRspr; W.-R. Schenke, in Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 43 Rn. 11; Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 7.
112Ein feststellungsfähiges konkretes Rechtsverhältnis setzt voraus, dass zwischen den Beteiligten dieses Rechtsverhältnisses ein Meinungsstreit besteht, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können,
113vgl. BVerwG, wie vor, BVerwGE 89, 327 - Leitsatz 1.
114Rechtliche Beziehungen eines Beteiligten zu einem anderen haben sich mithin erst dann zu einem bestimmten konkretisierten Rechtsverhältnis verdichtet, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits überschaubaren Sachverhalt streitig ist,
115BVerwG, wie vor, BVerwGE 89, 327 (329) stRspr.
116Für die rechtlichen Beziehungen, die ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis begründen, ist wesensnotwendig, dass sie zumindest ein subjektives öffentliches Recht zum Gegenstand haben, wie etwa ein einen Anspruch vermittelndes subjektives öffentliches Recht,
117W.-R. Schenke, a.a.O., § 43 Rn. 11 (S. 488),
118wobei dieser Anspruch auch auf ein Unterlassen gerichtet sein kann.
119Gemessen daran besteht ein Rechtsverhältnis. Das subjektive Recht der Klägerin ergibt sich aus der Parteienfreiheit (in Form der Gründungsfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG, der Betätigungsfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG und der aus einer Zusammenschau der Art. 3, 21 und 38 GG abzuleitenden politischen Chancengleichheit) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.
120Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, auf das sich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch die Klägerin zu 1. als Partei und juristische Person bzw. Personenverband im Rahmen ihres Aufgabenbereichs berufen kann,
121vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 -, BVerwGE 131, 171 = juris Rn. 16; VG München, Urteil vom 17. Oktober 2014 - M 22 K 13.2076 -, juris Rn. 21,
122umfasst den Schutz vor staatlichen Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf das Bild der betroffenen Person in der Öffentlichkeit auszuwirken,
123vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2004 - 1 BvR 263/03 -, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGK) 3, 319 = juris Leitsatz 1.
124Hierzu zählen auch das Verfügungsrecht und das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Außendarstellung sowie der Schutz des sozialen Geltungsanspruchs, der sog. „äußeren Ehre“ als des Ansehens in den Augen anderer,
125vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 -, BVerwGE 131, 171 = juris Rn. 16.
126Infolge dessen kann der von einer Äußerung Betroffene Unterlassung verlangen, wenn ihm eine derartige Rechtsverletzung (wiederholt) droht oder eine solche bereits eingetreten ist und noch andauert,
127vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2008 - 6 C 13.07 -, BVerwGE 131, 171 Rn. 13; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) Beschluss vom 9. September 2013 - 5 B 417/13 ‑, juris Rn. 13 m. w. N.
128Dies gilt hier nicht nur für die Bekanntgabe der Einordnung als Verdachtsfall, sondern auch für die Einordnung als solche.
129Die Klägerin ist diesbezüglich auch in eigenen Rechten betroffen. Denn die Einstufung des Flügels als einer politischen Strömung und damit als Teil der Klägerin hat in der Öffentlichkeit ebenfalls Ausstrahlungswirkung auf die Klägerin als Gesamtpartei. Neben dieser öffentlichen Wirkung hat die Einordnung und Beobachtung des Flügels auch zur Folge, dass die aus der Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse bei der Beurteilung, Einstufung und damit auch Beobachtung der Klägerin berücksichtigt werden und damit die Rechte der Klägerin auch insoweit tangiert werden.
130Dies gilt auch für die (isolierte) Einordnung als Verdachtsfall bzw. erwiesen extremistische Bestrebung. Auch die bloße Einordnung durch das Bundesamt stellt einen Eingriff in die Rechte des betroffenen Beobachtungsobjekts und damit in die Rechte der Klägerin dar.
131Zwar hat das erkennende Gericht mit Hängebeschluss vom 27. Januar 2021 (13 L 105/21) ausgeführt:
132„Soweit die Antragstellerin mit dem Antrag zu 1 Buchstabe a auch bezüglich der Einordnung, Prüfung und Führung als Verdachtsfall eine Zwischenentscheidung begehrt, fehlt es ebenfalls an der Notwendigkeit einer solchen Regelung. Bei der Einstufung, Prüfung sowie Führung handelt es sich - auch in Ansehung der Ausführungen der Antragstellerin im Schriftsatz vom 27. Januar 2021 - um interne Maßnahmen des Bundesamtes. Mangels öffentlicher Bekanntgabe sind keine Auswirkungen der bloß internen Einstufung etc. hinsichtlich der Mitglieder, Wähler oder Unterstützer konkret zu erwarten.“
133Das OVG NRW hat im dazu ergangenen Beschwerdeverfahren (Beschluss vom 18. Februar 2021 ‑ 5 B 163/21 ‑ S. 5) ebenfalls hierzu ausgeführt:
134„Entgegen dem Beschwerdevorbringen folgen aus der Einstufung einer Vereinigung als „Verdachtsfall“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz für sich genommen keine Nachteile in dem vorgenannten Sinne. Angesichts der Stillhaltezusage der Antragsgegnerin, eine entsprechende Entscheidung bis zur Entscheidung im Eilverfahren nicht zu veröffentlichen, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz zudem das Notwendige getan, um auch mittelbare Einflüsse auf die Antragstellerin zu vermeiden. Dabei versteht der Senat die Stillhaltezusage so, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nur eine öffentliche Bekanntgabe etwa im Wege einer Pressemitteilung oder sonstiger offizieller Verlautbarungen unterlassen wird, sondern auch jegliche in ihrer Wirkung gleichkommende Maßnahmen der Information der Öffentlichkeit insgesamt oder einzelner Presseorgane.“
135Auch hat etwa das VG München entschieden, dass politische Parteien keine Klagebefugnis für das Verlangen einer Streichung aus einem Verzeichnis zur Prüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst haben, da die Aufnahme und Nennung einer Partei in einem solchen Verzeichnis allenfalls mittelbare Auswirkungen für diese habe,
136VG München, Urteil vom 13. Oktober 1998 - M 5 K 96.5786 -, juris Rn. 21.
137Anders als dort ist die Einstufung einer Partei als Verdachtsfall aber unmittelbar (und untrennbar) mit der Einstufung als Beobachtungsobjekt verbunden, sodass die Partei planmäßig (und erforderlichenfalls - allerdings bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen - auch unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel) beobachtet werden darf, um die betreffenden Bestrebungen weiter aufzuklären,
138Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, BVerfSchG § 4 Rn. 100; Warg, in: Dietrich/Eiffler, Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 524,
139sodass die Einstufung einer Partei als Verdachtsfall der Steuerung der Intensität der Beobachtung dieser Partei dient und sich daher - anders als in dem vom VG München entschiedenen Fall - unmittelbar gegen die Partei selbst richtet.
140Unabhängig davon hat die Prozessgeschichte jedenfalls gezeigt, dass die Einstufung des Flügels nicht behördenintern bleibt (und geblieben ist), sodass zumindest eine mittelbar diskriminierende Wirkung durch die öffentliche Verbreitung dieser Einstufung entfaltet wird.
141Die Klägerin ist auch hinsichtlich der Unterlassungsanträge klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO analog. Insoweit gilt das zum Rechtsverhältnis Gesagte entsprechend.
142Des Weiteren hat die Klägerin das erforderliche Feststellungsinteresse. Höhere Anforderungen sind an die Feststellung des Nichtbestehens in der Vergangenheit liegender Rechtsverhältnisse zu stellen. Dies ist gegeben bei anhaltenden abträglichen Wirkungen, die etwa bei Wiederholungsgefahr und fortdauernder Diskriminierung (Rehabilitationsinteresse) bejaht werden. Ein Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr setzt die hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung oder Maßnahme ergehen wird. Ausreichend ist, wenn der Beklagte den Standpunkt vertritt, seine Verfahrensweise gebe zu Beanstandungen keinen Anlass,
143vgl. Sodan, a.a.O., § 43 Rn. 91.
144Davon ist angesichts der Stellungnahmen des Bundesamtes vorliegend auszugehen. Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass die streitgegenständliche Einstufung rechtmäßig war und ist.
145Der Klageantrag zu 10. ist hingegen unzulässig. Der damit geltend gemachte Feststellungsantrag ist subsidiär gem. § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Danach kann die Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies ist hier der Fall: Der Klageantrag zu 4. ist auf Unterlassung der Einstufung als gesichert extremistische Bestrebung (im nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung) gerichtet und stellt eine Leistungsklage dar. Im Rahmen der Leistungsklage unter Ziffer 4 ist inzident zu prüfen, ob die Einstufung rechtswidrig ist. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Einstufung ist daher in dem Unterlassungsantrag bereits enthalten, einen Anspruch auf isolierte Feststellung schließt § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO aus.
146II. Die Klage ist - soweit zulässig - nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
1471. Die Klägerin hat zunächst keinen Feststellungsanspruch, dass die Einordnung des Flügels als Verdachtsfall, Prüfung und Beobachtung am 15. Januar 2019 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war (Klageantrag zu 8.).
148Maßgeblich für die Entscheidung, mithin die Sach- und Rechtslage, ist dabei der durch die Klägerin gewählte Zeitpunkt am 15. Januar 2019. Grundsätzlich richtet sich der maßgebliche Zeitpunkt nach dem materiellen Recht. Eine derartige Vorgabe lässt sich dem maßgeblichen Regelungsgefüge des BVerfSchG nicht entnehmen.
149Daher kommt es auf den Klägerantrag an, § 88 VwGO. Mit dem Klageantrag und seiner Begründung bestimmt der Kläger selbst den Zeitpunkt, zu dem das Bestehen oder - wie hier - Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses festgestellt werden soll,
150vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2015 ‑ 4 C 15.14 ‑, juris Rn. 6 m. w. Nachw. der Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts; Happ, in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43 Rn. 18; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 5. Aufl. § 24 Rn. 18.
151Die Einordnung des Flügels war im hier maßgeblichen Zeitpunkt am 15. Januar 2019 rechtmäßig.
152Ermächtigungsgrundlage für die Einordnung, Prüfung und Beobachtung des Flügels durch das Bundesamt ist hier § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 3, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG in der damals noch geltenden Fassung vom Juni 2017.
153Ausdrücklich ist in § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG nicht die Einstufung als Verdachtsfall geregelt. Diese ergibt sich aber aus dem Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung,
154vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 5 B 163/21 -, juris Rn. 24; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 28, 38.
155Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG darf das Bundesamt für Verfassungsschutz die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten erheben, verarbeiten und nutzen.
156Gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG ist Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes u.a. die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG sind Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in Abs. 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in diesem Sinne zählen gem. Abs. 2 das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen (a), die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (b), das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition (c), die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung (d), die Unabhängigkeit der Gerichte (e), der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft (f) und die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte (g).
157Eine Anhörung der Klägerin war nicht erforderlich, auch wenn es sich bei der Einordnung und Behandlung als Verdachtsfall um Eingriffe in Grundrechte der Klägerin handeln mag. Eine Anhörung ist gesetzlich nicht vorgesehen, sie ergibt sich auch nicht aus einer analogen Anwendung des § 28 VwVfG. Darüber hinaus wäre ein Anhörungsmangel jedenfalls entsprechend § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG geheilt,
158vgl. zur Berichterstattung im Rahmen des Verfassungsschutzberichts OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris, Rn. 6 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 -, juris, Rn. 6 ff.; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24. Januar 2003 ‑ 11 TG 1982/02 -, juris, Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 -, beck-online Rn. 23; VG Berlin Beschluss vom 28. Mai 2020 ‑ VG 1 L 97.20 -, beck-online Rn. 28.
159Bei dem Flügel handelte es sich im maßgeblichen Zeitpunkt des 15. Januar 2019 um ein taugliches Beobachtungsobjekt.
160Der Flügel war ein Personenzusammenschluss im Sinne von § 4 BVerfSchG. Ein solcher ist in Abgrenzung zur Einzelperson jede Personenmehrheit unabhängig von ihrer Rechtsform, in der eine Mehrheit von Personen einen gemeinsamen Zweck verfolgt,
161Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 7 m.w.N; Warg, a.a.O., S. 535.
162Eine politische Partei - wie die Klägerin - ist gem. § 2 Abs. 1 PartG eine Vereinigung von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Es handelt sich bei einer Partei daher um eine Personenmehrheit, die ein gemeinsames Ziel verfolgt.
163Dies gilt ebenso für eine Teilorganisation einer Partei. Unschädlich ist, dass der Flügel keine satzungsgemäße offizielle Teilorganisation der Klägerin war und über keinerlei Rechtsform verfügt.
164Es kommt es nicht darauf an, über welche Organisationsstruktur der Flügel verfügt und wie viele Mitglieder oder Anhänger er hat. Es ist ausreichend, wenn mindestens zwei Personen tatsächliche Anhaltspunkte für eine gemeinsame Willensbildung bieten,
165vgl. Warg, a.a.O., S. 535.
166Vorliegend hat sich der Flügel auf Grundlage der sog. „Erfurter Resolution“ vom 14. März 2015 auf Initiative der beiden (damaligen) Mitglieder der Klägerin Björn Höcke und André Poggenburg gegründet. Die von den beiden zusammen mit 21 weiteren Amts- und Funktionsträgern der Klägerin unterzeichnete Erklärung bringt gemeinsame Ziele zum Ausdruck. Denn dort kritisieren die Erstunterzeichner „die vermeintliche Anpassung der Gesamtpartei an den ‚etablierten Politikbetrieb‘„. Die Partei müsse als „grundsätzliche, patriotische und demokratische Alternative zu den etablierten Parteien“, „als Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte“, „als Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität“ sowie als Partei, „die den Mut zur Wahrheit und zum wirklich freien Wort besitzt“, verstanden werden (Belegsammlung I Bl. 14 ff.). Der Flügel will folglich in der Gesamtpartei seinen politischen Kurs durchsetzen und mittels der Klägerin Veränderungen in den Parlamenten herbeiführen.
167Zudem verfügte der Flügel im maßgeblichen Zeitpunkt ohnehin über eine Organisationsstruktur. Er definierte sich qua Erklärung vom 24. Juni 2016 selbst als „zentral organisierter, loser Verbund von Mitgliedern der Alternative für Deutschland im gesamten Bundesgebiet“. Die Antwort für die organisatorische Arbeit des Flügels wird in der Erklärung auf den Kreisverband Nordhausen-Eichsfeld-Mühlhausen der Klägerin, dessen Kreis- und Landesvorsitzender Björn Höcke ist, übertragen. Auch ist in der Erklärung von einem „Flügel-Team“ die Rede, mit dem regionale Veranstaltungen zu koordinieren seien (Belegsammlung I Bl. 4319 ff.).
168Dass selbst die Klägerin den Flügel im hier maßgeblichen Zeitpunkt als Personenzusammenschluss angesehen hat, zeigen schließlich die Beschlüsse ihres Vorstandes vom 20. März 2020 und 6. April 2020. Darin fordert die Klägerin den Flügel auf, sich als „informellen Zusammenschluss“ aufzulösen und die vorhandenen Strukturen aufzugeben. Jedenfalls bis zur Auflösung des Flügels liegt auch nach der Auffassung der Klägerin ein Zusammenschluss vor. Neben der ausdrücklichen Bezeichnung als „Zusammenschluss“ setzt die Forderung der Klägerin zur Auflösung nämlich die Existenz eines Zusammenschlusses denklogisch voraus.
169An dieser Stelle kann auch dahinstehen, ob die formale Auflösung des Flügels Einfluss darauf hat, ob der Flügel weiterhin als Personenzusammenschluss im Sinne des Bundesverfassungsschutzgesetzes angesehen werden kann. Denn im vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der Einstufung als Verdachtsfall am 15. Januar 2019 war der Flügel unstreitig noch nicht aufgelöst. Dies geschah erst zum 30. April 2020 und damit mehr als ein Jahr nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt.
170Auch Parteien (und deren Teilorganisationen) fallen unter den Begriff des Personenzusammenschlusses und können von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet werden. Insbesondere steht nicht das Parteienprivileg nach Art. 21 Abs. 4 GG entgegen. Denn die Einordnung, Prüfung und Beobachtung durch das Bundesamt stellen kein Parteienverbot und keine dem Parteienverbot vergleichbare Maßnahme dar, die nach dem Maßstab des Art. 21 GG zu beurteilen wären.
171Die verbindliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei kann gemäß Art. 21 Abs. 4 GG nur das Bundesverfassungsgericht in dem nach den Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vorgesehenen Verfahren treffen (Parteienprivileg). Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts schließt damit ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten,
172vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 16.
173An dieser Bestands- und Schutzgarantie des Grundgesetzes hat auch die Klägerin vollen Anteil. Die Beobachtung durch das Bundesamt ist aber keine solche Maßnahme, sondern dient der Aufklärung des Verdachts, dass eine politische Strömung der Klägerin verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Die Zulässigkeit einer solchen Aufklärung wird von der Verfassung vorausgesetzt. Auch ohne die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit darf die Überzeugung gewonnen und vertreten werden, eine Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele,
174BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 (130 f.); BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 21.
175Die verfassungsschutzbehördliche Beobachtung einer politischen Partei ist nämlich keine administrative Maßnahme, die sich gegen den Bestand der Partei richtet. Denn sie führt erkennbar nicht zum vollständigen Ausschluss der betroffenen Partei aus dem Willensbildungsprozess. So kann die Partei trotz Beobachtung weiterhin insbesondere an Wahlen teilnehmen und in Parlamenten vertreten sein (und auch alle anderen Rechte einer Partei wahrnehmen); sie partizipiert auch weiter von der Parteienfinanzierung. Es widerspräche auch dem Schutzzweck der § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG, das durch die Einstufung und Beobachtung gewährleistete „Frühwarnsystem der Demokratie“ hinsichtlich der durch tatsächliche Anhaltspunkte belegten Gefährdungen der grundgesetzlichen Ordnung „auszuschalten“ und bereits für die Einleitung eines Verfahrens, das der Aufklärung eines Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen dienen soll, dieselben Maßstäbe anzulegen, wie bei einem Parteiverbot, das erst am Ende eines solchen Verfahrens stehen kann.
176Soweit § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG das Bundesamt für Verfassungsschutz ermächtigt, bei Anhaltspunkten verfassungsfeindlicher Bestrebungen eine politische Partei zu beobachten, steht die Vorschrift auch mit Art. 21 Abs. 1 GG in Einklang. Das erkennende Gericht schließt sich diesbezüglich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an. Dieses hat dazu ausgeführt:
177„Nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit; ihre Gründung ist frei. Das Grundgesetz setzt die Staatsfreiheit der Parteien als frei gegründeter, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnder Gruppen voraus und gewährleistet ihre Unabhängigkeit vom Staat. Ihnen steht das Recht auf Selbstbestimmung zu. Zu dessen Kernbereich gehört das Recht der Parteien, selbst und ohne staatliche Einflussnahme oder Überwachung über ihre Ziele, Organisation und Tätigkeiten zu entscheiden. Sowohl die Freiheit der inneren Willensbildung als auch die freie Entfaltung der Tätigkeiten als Partei sind gewährleistet.
178Das Selbstbestimmungsrecht der Parteien findet seine Schranke in der Entscheidung des Grundgesetzes für eine „streitbare Demokratie“. Diese Grundentscheidung ist im Wesentlichen aus Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 20 Abs. 4, Art. 21 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 3 GG herzuleiten. Sie wird in den Zuständigkeitsvorschriften der Art. 73 Nr. 10 Buchst. b und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG bestätigt. Das Grundgesetz vertraut aufgrund geschichtlicher Erfahrung nicht allein darauf, die freiheitliche Demokratie werde sich im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ohne Weiteres behaupten. Es hat darüber hinaus dem Staat die Aufgabe übertragen, die zentralen Grundwerte der Verfassung durch (repressive) Schutzvorkehrungen zu sichern und zu gewährleisten. Die Beobachtung einer politischen Partei auf verfassungsfeindliche Bestrebungen hin zielt dabei nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen vorzubereiten. Sie bezweckt vielmehr auch, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art. und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken. Um die Überschreitung der Linie feststellen zu können, von der an verfassungsfeindliche Betätigungen zu einer Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung werden, der nicht mehr mit politischen Mitteln, sondern nurmehr mit juristischen Mitteln begegnet werden kann, muss dieses Vorfeld notwendig beobachtet werden (so unter Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 30.97 - BVerwGE 110, 126 <131 ff.>).
179Der Gesetzgeber hat die Aufgaben und Befugnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz so bestimmt, dass Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Parteien auf das zur Selbstverteidigung der freiheitlichen Demokratie zwingend Gebotene beschränkt bleiben. Die widerstreitenden Prinzipien der Parteienfreiheit und der streitbaren Demokratie sind namentlich in § 8 Abs. 5 BVerfSchG und § 9 BVerfSchG mit Hilfe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einem angemessenen Ausgleich zugeführt. Die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall genügt zur Wahrung der Rechte und schützenswerten Belange Betroffener. Dies gilt auch für politische Parteien (Urteil vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 30.97 - BVerwGE 110, 126 <134 f.>).
180Werden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beobachtung von Parteien durch den Verfassungsschutz eingehalten und wird dabei insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt, greift diese Beobachtung nicht stärker in den offenen Wettbewerb der Parteien um die Möglichkeit politischer Gestaltung ein, als dies mit Rücksicht auf die Verteidigung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Demokratie erforderlich ist. Das Bundesverfassungsschutzgesetz lässt es nicht zu, den Verfassungsschutz darüber hinaus einseitig parteipolitisch, namentlich im Interesse der Regierungsparteien zu instrumentalisieren. Missbräuchlich, und deshalb von den eingeschränkten Ermächtigungsgrundlagen des Bundesverfassungsschutzgesetzes nicht gedeckt, wäre eine einseitige und gezielte, zudem verdeckte Weitergabe von gewonnenen Erkenntnissen an einzelne Parteien oder Politiker, namentlich zur Verwendung im Wahlkampf. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes, Munition für den Wahlkampf bereitzustellen. Welche Folgerungen daraus für die Anforderungen zu stellen sind, unter denen in einem Verfassungsschutzbericht (§ 16 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG) politische Parteien oder einzelne Personen als extremistisch oder verfassungsfeindlich bewertet werden dürfen, bedarf hier keiner Entscheidung.“
181BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 22 - 26.
182Ferner stehen die Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder aber die Leitlinien der Venedig-Kommission - jeweils zu Parteiverboten - der Anwendbarkeit der § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 3, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG nicht entgegen. Denn es liegt kein Parteienverbot vor und die streitgegenständlichen Handlungen des Bundesamtes erreichen auch nicht die Intensität eines Parteienverbots; daher sind die aus der EMRK abgeleiteten Voraussetzungen eines Parteienverbots auch nicht heranzuziehen.
183Ebenfalls unerheblich ist, ob der Flügel - wie die Klägerin meint - nicht über einen nennenswerten Einfluss auf die Klägerin verfügt. Denn es geht vorliegend nicht um die Einstufung oder Beobachtung der Klägerin, sondern den Flügel selbst. In dieser Hinsicht ist es irrelevant, über welchen Einfluss der Flügel verfügt. Denn ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen, die darauf gerichtet sind, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, liegen auch dann vor, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass die verfassungsfeindliche Absicht in absehbarer Zukunft verwirklicht werden wird,
184VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03, juris Rn. 141; VG Berlin Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 97.20, BeckRS 2020, 14940 Rn. 36, beck-online.
185Es liegen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen des Flügels vor.
186Voraussetzung für die Sammlung und Auswertung von Informationen im Sinne des § 3 Abs. 1 ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte, § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG,
187Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz - BVerfSchG) vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 5. Juli 2021 (BGBl. I S. 2274). § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG entspricht dabei wörtlich dem § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG a.F.
188Liegen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor, besteht ein Verdacht solcher Bestrebungen. Die Anhaltspunkte müssen mithin geeignet sein, einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu begründen. Die dann einsetzende Beobachtung dient (erst) der Klärung des Verdachts,
189BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 29.
190Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 21 Abs. 2 GG (und Art. 9 Abs. 2 Alt. 2 GG) dahingehend einzuschränken, dass eine Konzentration auf nur wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind, vorgenommen werden muss, namentlich die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und das Rechtstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG. Diese Rechtsprechung betrifft den Ausnahmefall des Parteiverbots. Danach kommt ein Ausschluss aus dem Prozess der politischen Willensbildung erst dann in Betracht, wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar ist und daher außerhalb jedes Streits stehen muss,
191BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 ‑ 2 BvB 1/13 ‑, BVerfGE 144, 20 Rn. 535.
192Vorliegend geht es nicht um den Ausschluss der Klägerin aus dem Prozess der politischen Willensbildung und um ein Parteienverbot. Es ist auch nicht erforderlich, dass die Bestrebungen auf die Abschaffung oder Außerkraftsetzung sämtlicher im Grundgesetz verbürgter Menschenrechte abzielen. Denn es wäre nicht mit dem Gesetzeszweck - Schutz der Menschenrechte - zu vereinbaren, käme er erst dann zum Zuge, wenn eine Person oder Gruppierung ihre umfassende Beseitigung anstrebte. Es genügt also, dass sich die Aktivitäten des Personenzusammenschlusses gegen einzelne dieser Menschenrechte richten, dazu zählen neben der Menschenwürde - die ohnehin zu den zentralen Grundprinzipien zählt - auch die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG),
193vgl. VG München Urteil vom 29. August 2002 - M 24 K 02.2483 ‑, juris Rn. 34; Roth, a.a.O., § 4 BVerfSchG Rn. 51.
194Tatsächliche Anhaltspunkte verlangen mehr als bloße Vermutungen, Spekulationen, Mutmaßungen oder Hypothesen, die sich nicht auf beobachtbare Fakten stützen können. Andererseits ist keine Gewissheit hinsichtlich des Vorliegens verfassungsfeindlicher Bestrebungen erforderlich. Es müssen vielmehr konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtung auf das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen hindeuten,
195vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 28, 30; OVG NRW, Urteil vom 12. Februar 2008 - 5 A 130/05 ‑, juris Rn. 270.
196Die Anforderungen an das Gewicht der Anhaltspunkte sind geringer als bei einer Berichterstattung in Verfassungsschutzberichten, weil die Beobachtung der Aufklärung dient, ob verfassungsfeindliche Bestrebungen gegeben sind und welche Gefahren von diesen ausgehen,
197BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 29.
198Bloß vereinzelte Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses genügen allerdings nicht,
199BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 54.
200Es reicht aber aus, dass die Gesamtschau aller vorhandenen tatsächlichen Anhaltspunkte, d.h. der vielfältigen Einzelakte der Vereinigung und ihrer Funktionäre und Mitglieder, auf entsprechende Bestrebungen hindeuten, selbst wenn jeder einzelne Anhaltspunkt für sich genommen nicht genügen würde,
201BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 30.
202Es ergibt sich kein anderer Maßstab aus der von der Klägerin ins Feld geführten sog. „Republikaner-Rechtsprechung“,
203VG Berlin, Urteil vom 31. August 1998 - VG 26 A 623.97 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 ‑, juris.
204Anders als die Klägerin meint, ist es - jedenfalls bei der hier streitgegenständlichen Einstufung als Verdachtsfall - unerheblich, ob sich angesichts gegenläufiger Äußerungen ein uneinheitliches Bild im Bereich der Ausländer- und Asylpolitik ergibt.
205Es ist insoweit nämlich keine quantitative Betrachtung anzustellen. Dass die für die Verfassungsfeindlichkeit sprechenden Anhaltspunkte einer mehr oder weniger großen Zahl unverfänglicher Sachverhalte scheinbar untergeordnet sind, spricht allein noch nicht gegen ihre Aussagekraft. Ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen können bereits dann gegeben sein, wenn aussagekräftiges Tatsachenmaterial lediglich einen Teilbereich der Zielsetzungen, Verlautbarungen und Aktivitäten des Personenzusammenschlusses widerspiegelt. Deren Aussagekraft wird nicht allein dadurch in Frage gestellt, dass daneben eine Vielzahl von verfassungsschutzrechtlich irrelevanten oder wertneutralen Äußerungen existiert, denen sich keine Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Ausrichtung entnehmen lassen,
206vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 45, 49; OVG NRW, Urteil vom 12. Februar 2008 - 5 A 130/05 - juris Rn. 304; VG Köln, Urteil vom 1. November 2004 ‑ 20 K 1882/03 - juris Rn. 122; Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 103.
207Gerade die innere Zerrissenheit einer Partei, Flügelkämpfe und eine Annäherung an extremistische Gruppierungen oder Parteien können eine Beobachtung durch Verfassungsschutzbehörden erfordern. Nur so ist festzustellen, in welche Richtung sich die Partei letztlich bewegt. Allein durch die Beobachtung können die Regierung, das Parlament und die Öffentlichkeit über den Fortgang der weiteren, noch nicht abgeschlossenen Entwicklung der Partei sachkundig und angemessen unterrichtet werden. So können eindeutige verfassungsfeindliche Bestrebungen einzelner Gruppierungen innerhalb einer Partei Anhaltspunkte dafür liefern, in welche Richtung die Partei sich entwickeln kann. Das erfordert die Beobachtung der Partei insgesamt, nicht nur - aber auch - der einzelnen Gruppierung, mag auch diese für sich einen Personenzusammenschluss im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG darstellen. Es ist auch danach zu fragen, inwieweit die verfassungsfeindlichen Bestrebungen einzelner Gruppierungen für die künftige Entwicklung der Gesamtpartei von Bedeutung sein können,
208BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 45.
209Der Begriff der „Bestrebung“ erfordert - in Abgrenzung insbesondere zur bloßen Meinungsäußerung - ein aktives, aber nicht notwendigerweise kämpferisch aggressives Vorgehen zur Realisierung eines bestimmten Ziels. Es bedarf Aktivitäten, die über eine bloße Missbilligung oder Kritik an einem Verfassungsgrundsatz hinausgehen,
210BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 -, BVerfGE 113, 63 = juris Rn. 70; BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 ‑, BVerwGE 137, 275 Rn. 59; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 94; VG Düsseldorf, Urteil vom 28. Mai 2013 - 22 K 2532/11 -, juris Rn. 88.
211Kritik an einem Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung muss danach nur als „bloße“ Kritik unberücksichtigt bleiben, nicht jedoch, wenn sie verbunden ist mit der Ankündigung konkreter Aktivitäten zur Beseitigung dieses Verfassungsgrundsatzes oder mit der Aufforderung zu solchen Aktivitäten. Bei Meinungsäußerungen, die von oder innerhalb einer politischen Partei abgegeben werden, liegt es zumindest nahe, dass sie mit der Intention einer entsprechenden Änderung der realen Verhältnisse abgegeben werden; denn politische Parteien sind gerade auf Änderung der politischen Verhältnisse ausgerichtet,
212BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 61; VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2016 - VG 1 K 255.13 -, juris Rn. 29; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933 Rn. 26; Murswiek, Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht, NVwZ 2006, 121 (128).
213Belege für verfassungsfeindliche Bestrebungen können sich aus dem Programm und der Satzung des in den Blick genommenen Personenzusammenschlusses ergeben, aus den Äußerungen und Taten von führenden Persönlichkeiten und sonstigen Vertretern, Mitarbeitern und Mitgliedern der Gruppierung sowie aus deren Schulungs- und Werbematerial,
214BVerfG, Urteil vom 17. August 1956 - 1 BvB 2/51 -, BVerfGE 5, 86 = juris Rn. 228; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 -, juris Rn. 47; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 47; OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 1994 - 5 B 1236/93 -, juris Rn. 46.
215Schließlich kommt es - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht entscheidend darauf an, ob die zur Feststellung des Bestehens verfassungsfeindlicher Bestrebungen herangezogenen Äußerungen für sich genommen zulässig sind, da sie vom Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst sind. Im politischen Meinungskampf gilt zwar für die Abhandlung von Themen, an denen ein öffentliches Interesse besteht, allgemein die Vermutung für die freie Rede und sind auch scharfe und übersteigerte Äußerungen grundsätzlich zulässig,
216BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2001 - 2 WD 42.00, 2 WD 43.00 -, BVerwGE 114, 258 = juris Rn. 37 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 -, juris Rn. 168.
217Mit der Feststellung, dass die einzelnen Äußerungen unter den Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen, ist jedoch nicht zugleich gesagt, dass deswegen die Berücksichtigung im Rahmen der verfassungsbehördlichen Beurteilung unzulässig wäre. Es ist dem Staat nicht verwehrt, aus Meinungsäußerungen, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genießen, also weder verboten sind noch bestraft werden können, Schlüsse zu ziehen und Maßnahmen zum Rechtsgüterschutz zu ergreifen. Das Gesetz definiert den Begriff der Bestrebung nicht anhand der Merkmale legal/illegal. Deshalb können die Verfassungsschutzbehörden an die Inhalte von Meinungsäußerungen anknüpfen, soweit diese Ausdruck eines Bestrebens sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Die verfassungsfeindliche Zielrichtung kann sich auch aus einer Zusammenschau erlaubter Äußerungen ergeben,
218vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 32; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. April 2006 - OVG 3 B 3.99 -, juris Rn. 47; BayVGH, Beschluss vom 7. Oktober 1993 - 5 CE 93.2327 -, juris Rn. 24; VG Berlin Urteil vom 21. Januar 2016 - VG 1 K 255.13 ‑, juris Rn. 32.
219Nach diesen Maßstäben liegen tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung vor.
220Zunächst - und zuvorderst - bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine zen-trale politische Vorstellung des Flügels der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand ist und ethnisch „Fremde“ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollen. Ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde. Denn die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfasst die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede. Sie wird beeinträchtigt bei allen Formen rassisch motivierter Diskriminierung sowie wenn einzelne Personen oder Personengruppen grundsätzlich wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden,
221vgl. VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933 Rn. 30, beck-online; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 31 ff; ebenso hinsichtlich des „ethnokulturellen“ Volksbegriffs der Identitären Bewegung VG Ansbach, Urteil vom 25. April 2019 - AN 16 K 17.01038 -, juris Rn. 39 ff.; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 63 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. November 2019 ‑ OVG 1 M 119.19 -, juris Rn. 11; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 - OVG 1 N 96.20 -, juris Rn. 9 ff.
222Das Grundgesetz kennt überdies einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, „von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 gleichgestellten Personen“ gebildet wird,
223BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 1990 ‑ 2 BvF 2, 6/89 ‑, BVerfGE 83, 37 (51).
224Für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk und den daraus sich ergebenden staatsbürgerlichen Status ist demgemäß die Staatsangehörigkeit von entscheidender Bedeutung. Dabei überlässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber, wie sich aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 116 Abs. 1 GG ergibt, die Regelung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit. Er kann insbesondere bei einer erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes dem Ziel einer Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft staatlicher Herrschaft Unterworfenen durch eine Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit für Ausländer, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, Rechnung tragen,
225vgl. BVerfG, Urteil vom 31. Oktober 1990 ‑ 2 BvF 2, 6/89 ‑, BVerfGE 83, 37 (51 f.).
226Der Gesetzgeber ist bei der Konzeption des Staatsangehörigkeitsrechts nicht an den Abstammungsgrundsatz gebunden. Demgemäß kommt bei der Bestimmung des „Volkes“ im Sinne des Grundgesetzes ethnischen Zuordnungen keine exkludierende Bedeutung zu. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus Sicht der Verfassung unabhängig von seiner ethnischen Herkunft Teil des Volkes,
227vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 691.
228Diese verfassungsrechtliche Vorgabe steht in deutlichem Gegensatz zur Auffassung des Flügels, der zwischen deutschen Staatsangehörigen - die als „Passdeutsche“ bezeichnet werden - und dem „Deutschen Volk“ differenziert und nach dessen Überzeugung daher der Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht dazu führen soll, dass der Eingebürgerte ebenfalls Teil des deutschen Volkes wird.
229Die mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes unvereinbare Auffassung des Flügels ergibt sich aus den Verlautbarungen des Flügels selbst und seiner Repräsentanten.
230Dies zeigt sich schon durch die Verwendung bestimmter - in rechtsextremen Kreisen gängiger - Begrifflichkeiten.
231Zu einer Aussage, die sich gegen eine „Umvolkung“ richtet (wörtliche Äußerung „Ich sage jetzt bewusst: Die deutsche Rasse soll durch solche Dinge aufgemischt werden.“) hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass sie darauf gerichtet sei, Asylbewerbern und Migranten ihre Menschenwürde abzusprechen,
232BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, juris Rn. 720 f. (NPD); vgl. auch BVerwG, Urteil vom 5. August 2009 - 6 A 3/08 ‑, BVerwGE 134, 275, juris Rn. 67, 69 (Collegium Humanum).
233Der Terminus des „Großen Austauschs“ bezeichnet (insbesondere) nach dem Verständnis der Identitären Bewegung einen schrittweisen Prozess, durch den die heimisch angestammte Bevölkerung durch (insbesondere außereuropäische) verdrängt und ausgetauscht wird. Da dieses Konzept der abstammungsbezogenen Begrenzung der „deutschen Volksgemeinschaft“ und der Notwendigkeit, diese vor einer Vermischung mit anderen Rassen zu schützen auf völkisch-ethnischen Vorstellungen eines ethnisch vorhergehenden deutschen Volkes beruht, stellt das Vertreten dieses Konzepts einen tatsächlichen Anhaltspunkt für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung dar,
234vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 673 ff., 690 ff.; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 - , juris Rn. 68; VG Weimar, Beschluss vom 9. Januar 2013 - 1 E 1194/12 We -, juris Rn. 8. ff.
235Ebenso gründet der „Volkstod“-Vorwurf, wonach die Regierenden und „die Ausländer“ den „Tod des deutschen Volkes“ herbeiführen, auf der Vorstellung einer ethnisch homogenen „Volksgemeinschaft“ und ist der Ideologie des Nationalsozialismus entnommen. Das Schlagwort wurde vom Nationalsozialismus aufgegriffen und in die Propaganda übernommen. Dahinter verbirgt sich eine rassistische Weltanschauung, die Menschen nichtdeutscher Herkunft als Bedrohung für das eigene Volk betrachtet,
236vgl. OVG Sachsen, Urteil vom 8. September 2016 - 3 C 8/14 -, juris, Rn. 77 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Dezember 2012 - OVG 1 L 82.12 -, juris, Rn. 11; Urteil vom 20. November 2013 - OVG 1 A 4.12 -, juris, Rn. 60 ff.; VG Greifswald, Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 A 853/14 -, juris, Rn. 36.
237Das gilt ebenso für den Vorwurf eines „Völkermordes“ am deutschen Volk durch Vermischung mit anderen Ethnien, der auf der pauschalen Darstellung von Ausländern als tödlicher Gefahr für das kollektive Überleben des deutschen Volkes beruht,
238vgl. OLG München, Beschluss vom 21.03.2016 - 2 Ws 131/16 -, juris Rn. 16.
239Es kann auch dahinstehen, ob allein die Verwendung von Begriffen, die etwa in rechtsextremen Kreisen verwendet werden, einen tatsächlichen Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung begründet, da es auf den jeweiligen Kontext der Äußerung ankomme,
240so Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, S. 176 f.
241Vorliegend finden sich diese Vokabeln von Vertretern des Flügels wiederholt und über einen langen Zeitraum und in offenkundiger Kenntnis des damit verbundenen Verständnisses und Kontexts. Besonders bezeichnend ist, dass die Begrifflichkeiten weiter verwendet werden, auch wenn das von dem Staatsrechtler Prof. Murswiek für die Klägerin im Oktober 2018 erstellte Gutachten ausdrücklich empfiehlt, solche extremistischen Reizwörter zu vermeiden,
242vgl. Murswiek, Rechtliche Voraussetzungen für die Beobachtung einer politischen Partei durch den Verfassungsschutz. Kurzgutachten und Handlungsempfehlungen für die AfD, abrufbar unter https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2019/01/2018-10-22_vs-kurzgutachten_prof-murswiek_voraussetzungen-allgemein.pdf, S. 41 [abgerufen am 7. März 2022].
243Auch ist im jeweiligen Kontext klar erkennbar, dass der „Austausch“ der heimischen Bevölkerung durch außereuropäische Bevölkerung kritisiert und das Ziel des Erhalts der ethnisch deutschen Bevölkerung propagiert wird. Es geht vorliegend auch nicht um die Frage, ob die Verwendung dieser Begriffe eindeutig eine verfassungsfeindliche Zielrichtung belegt. Denn die Einstufung als Verdachtsfall und Beobachtungsobjekt erfordert allein einen Verdacht der verfassungsfeindlichen Bestrebung und das Vorliegen von (tatsächlichen) Anhaltspunkten.
244Die genannten Begriffe werden von Vertretern des Flügels oder in den Verlautbarungen des Flügels selbst exemplarisch folgendermaßen verwendet:
245Am 14. Oktober 2016 stellte der Flügel auf seine Homepage einen Beitrag des Kolumnisten Herbert Gassen:
246„Die Kanzlerin hat mit ihrem Umfeld das Endspiel Deutschlands eingeläutet. Sie startete mit ihrem Willkommensgruß an Millionen fremder Menschen die Umvolkung der Bundesrepublik [...] Das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland ist von dieser politischen Kaste ad absurdum geführt worden. Deswegen sollten wir den heutigen Tag trotz aller Bedenken noch einmal fröhlich feiern. Genießen wir den Untergang, denn das Ende wird furchtbar. Alles unter Deutschland in Gemeinschaft mit den Völkern Europas und der Welt.“ (Gutachten I Bl. 344 f.)
247Der Flügel veröffentlichte überdies am 9. März 2018 auf seiner Facebook-Seite einen Beitrag unter dem Titel „Merkel und der Volkstod“. Der Kanzlerin wurde dort vorgeworfen, sie unterstütze die „endgültige Auflösung der deutschen Identität“ (Gutachten I Bl. 346).
248Björn Höcke, Mitbegründer des Flügels, spricht an einigen Stellen von der „Auflösung“ Deutschlands, dem „Volkstod“ und dem „Verschwinden“ und „Austausch“ des deutschen Volkes.
249„Es kann kein Zweifel sein, die Altparteien, die lösen unser Deutschland auf, ob sie das willentlich machen oder weil sie einfach zu blöd sind, um Politik zu betreiben. Sie lösen unser Deutschland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl“ (Gutachten I Bl. 77), 13. September 2017.
250„Ich sage es in aller Deutlichkeit: Diese Regierung ist keine Regierung mehr, diese Regierung ist zu einem Regime mutiert! [...] Diese alten Kräfte, die ich gerade genannt habe, sie lösen unser liebes deutsches Vaterland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl. Aber wir, liebe Freunde, wir Patrioten werden diesen Wasserstrahl jetzt zu drehen, wir werden uns unser Deutschland Stück für Stück zurückholen!“ (Gutachten I Bl. 368 f.), 17. Januar 2017.
251„Diese auf Verantwortungsethik beruhende Einsicht existiert leider bei den Altparteienvertretern im Altparteienkartell nicht, dort will man, dass die Deutschen verschwinden, sie und ihre Kultur, denn das kann nicht anders erkannt werden.“ (Gutachten I Bl. 77, 9. September 2017)
252„Wir stehen vor einem Kultur- und Zivilisationsbruch historischen Ausmaßes, liebe Freunde, und es ist ein Faktum und es ist ein trauriger Befund. Deutschland, liebe Freunde, unser Deutschland, das wir lieben und das wir verteidigen wollen und das wir unseren Kindern als Erben hinterlassen wollen, dieses Deutschland verflüchtigt sich jeden Tag ein wenig mehr.“ (Gutachten I Bl. 355, 13. Mai 2016)
253„[...] die jubeln regelrecht über unseren bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch. Die Flüchtlinge sind ihnen nur Mittel zum Zweck, damit das verhasste eigene Volk endlich von der Weltbühne verschwindet.“ (Belegsammlung I Bl. 2154)
254Andreas Kalbitz, bis Mai 2020 brandenburgischer Landesvorsitzender der Klägerin und Beisitzer im Bundesvorstand der Klägerin, war neben Höcke einer der führenden Köpfe des Flügels und Erstunterzeichner der Erfurter Resolution. Auch Kalbitz hat zum Teil die o.g. Begriffe in eindeutigem Kontext verwendet:
255„Was ist aus unserem Land geworden, wenn die pseudochristliche, linksfaschistische Deutschlandhasserin Margot Käßmann [Buhrufe] alle Ethnodeutschen, also alle Menschen, deren familiäre und traditionelle Wurzeln in unserem Land liegen, man könnte auch sagen die indigene Bevölkerung, das seid Ihr, wenn diese Menschen pauschal als Nazis beschimpft werden. Wir sind nicht bereit, dabei zuzusehen, wie sich unser Land auflöst. Es löst sich auf in den Köpfen und Seelen unserer Menschen, die durch die Multikultipropaganda der Deutschlandhasser bis hin zu Selbstvernichtung verblendet und verbündet sind.“ (Gutachten I Bl. 74 f., 7. Juli 2017)
256Dr. Hans-Thomas Tillschneider, ebenfalls Erstunterzeichner der Erfurter Resolution und Vertreter des Flügels, verwendete im streitgegenständlichen Zeitraum die genannten Begriffe ebenfalls:
257„Gemeinsam gegen die Umvolkung! ‚Umvolkung‘ ist kein ‚Nazi-Sprech‘, sondern ein treffender und sachangemessener Begriff für das, was gerade in unserem Land geschieht.“ (Gutachten I Bl. 143, 26. September 2016)
258„Wenn wir wollen, dass Deutschland Deutsch bleibt, wenn wir nicht wollen, dass unser Volk und unsere Kultur sich auflösen wie Brausetabletten im Wasserglas, müssen wir uns für diesen Willen nicht rechtfertigen, denn ist das natürlichste der Welt.“ (Belegsammlung I Bl. 4443 ff., 2. September 2017)
259Dr. Christina Baum, eine weitere Erstunterzeichnerin der Erfurter Resolution, erhob am 12. Mai 2016 den „Volkstod“-Vorwurf im Zusammenhang mit der Wahl der türkischen stimmigen muslimischen Politikerin Aras zur Landtagspräsidentin in Baden-Württemberg:
260Ich stehe weiterhin zu dem Begriff des schleichenden Genozids an der deutschen Bevölkerung durch die falsche Flüchtlingspolitik der Grünen. Der Genozid bezeichnet nach einer UN-Resolution die Absicht, eine nationale, ethnische, religiöse Gruppe teilweise oder ganz zu zerstören. Und diese Absicht unterstelle ich den Grünen.“ (Gutachten I Bl. 139, 11. Mai 2016)
261Jörg Urban, Vorsitzender des sächsischen Landesverbandes der Klägerin, vom Flügel als „unser Spitzenkandidat für Sachsen“ bezeichnet (B33, BA 1), sprach ebenfalls in einem Facebook-Beitrag vom 29. April 2018 von der Auflösung Deutschlands:
262„Wie ihrem Vortänzer Joschka Fischer geht es den Grünen um die Auflösung Deutschlands. Unsere Kultur und unsere Lebensweise sollen verwässert und aufgelöst werden.“ (Gutachten I Bl. 75)
263Prof. Dr. Ralph Weber, führender Repräsentant des Flügels in Mecklenburg-Vorpommern, verwendete den Begriff des „Großen Austauschs“:
264„Dies bedeutet [...] eine ebenso deutliche Absage an alle Versuche, unser Volk durch Überfremdung mittels Zuwanderung auszutauschen. [...] Denn dann findet dieser ‚Große Austausch‘ nicht statt.“ (Belegsammlung I Bl. 2627, 24. April 2017)
265In der ursprünglichen Fassung des Beitrages verwendete Weber die nationalsozialistische Arier-Definition und die Kampfparole der NPD „Deutschland den Deutschen“:
266„Wir ‚Biodeutsche‘ mit zwei deutschen Eltern und vier deutschen Großeltern müssen hierfür sorgen. [...] Und wir wissen, [...] Dass aus der von uns hervorgerufenen Welle eine mächtige Flut werden wird, wie all diese linksgrünen Ideologen, die nichts anderes im Sinne haben als Deutschland als Nation und die Deutschen als Volk endgültig auszulöschen, hinwegfegen und unseren Zielen zum Sieg verhelfen wird. Dafür arbeiten wir, dafür kämpfen wir dafür führen wir unseren Wahlkampf. Deutschland den Deutschen und alles für unser geliebtes Deutschland.“ (Gutachten I Bl. 137, 24. April 2017)
267Diese Äußerungen führten zu einer Rüge Webers durch die Klägerin, nicht jedoch durch den Flügel. Weber selbst hat nach öffentlicher Kritik die betreffenden Passagen aus dem Facebook-Beitrag gestrichen.
268Die Parole „Deutschland den Deutschen“ verwendete auch Benjamin Nolte am 22. Juni 2017 (Belegsammlung I Bl. 2618).
269Thorsten Weiß, Koordinator des Flügels in Berlin, griff ebenfalls den „Volkstod“-Vorwurf auf:
270„2050 soll es kein erkennbares deutsches Volk mehr geben. Regierung plant den Volkstod!“ (Belegsammlung I Bl. 2787, 2. Februar 2018).
271Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen ergeben sich darüber hinaus insbesondere aus Äußerungen von Björn Höcke, der Mitbegründer des Flügels und Fraktionsvorsitzender und (einer der) Sprecher des thüringischen Landesverbandes der Klägerin ist.
272Das VG Meiningen hat in einem Eilbeschluss vom 26. September 2019 die Bezeichnung Höckes als Faschist als von der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen, weil sie auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruhe:
273„Auch durch eine Reihe von Sozialwissenschaftlern und Historikern werde eine offene Übernahme von faschistischen, rassistischen, antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Aussagen des deutschen Nationalsozialismus festgestellt. Im Juli 2018 sei sein Buch mit dem Titel „Nie zweimal in denselben Fluss“ im Manuscriptum-Verlag erschienen. Es handele sich um ein rund dreihundert-seitiges Interview. Dieses Buch bestätige insgesamt eine faschistische Agenda des Herrn Höcke. Nach seiner Auffassung sei letztlich ein neuer Führer erforderlich. Teile der Bevölkerung sollten ausgeschlossen werden, insbesondere Migranten. In rassistischer Diktion wettere er gegen den angeblich „bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“. Gegenüber Andersdenkenden gelte: „Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser kuriert werden, wusste schon Hegel“. Bezogen auf die von ihm angestrebte Umwälzung stelle er fest, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind“ mitzumachen. Er denke an einen „Aderlass“. Diejenigen Deutschen, die seinen politischen Zielen nicht zustimmten, würden aus seinem Deutschland ausgeschlossen werden. Er trete für die Reinigung Deutschlands ein. Mit starkem Besen sollten eine „feste Hand“ und ein „Zuchtmeister“ den Saustall ausmisten. Bezogen auf den Hitler-Faschismus sei diese für ihn vor allem die „katastrophale Niederlage von 1945“. Schlimm sei gewesen, dass Deutschland den Weltkrieg verloren habe. In Dresden habe er eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert, was heiße, die Zeit des Hitler-Faschismus positiv zu betrachten, was auch insgesamt man aus seiner Rede herauslesen werde können. Dort fände sich auch eine Verherrlichung des Faschismus. Das Holocaust-Denkmal in Berlin bezeichne er als „Schandmal“. Er setze immer wieder an faschistischem Sprachduktus an: „Ich will, dass Magdeburg und dass Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit haben. Ich will, dass sie noch eine tausendjährige Zukunft haben, und ich weiß, ihr wollt das auch“. Zu Hitler erkläre er, dass „Hitler als absolut böse dargestellt wird“, und dass es nicht so „Schwarz und Weiß“ sei. Im Kontext vieler anderer Aussagen sei immer wieder eine Verharmlosung und Relativierung Hitlers und des Dritten Reiches erfolgt.
274Diese Aussagen hat die Antragstellerin mit Zitatstellen aus dem Buch Höckes und Presseberichterstattung belegt.
275Damit hat die Antragstellerin in einem für den Prüfungsumfang im Eilverfahren und angesichts der Kürze der für die Entscheidung des Gerichts verbleibenden Zeit in ausreichendem Umfang glaubhaft gemacht, dass ihr Werturteil nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht, dass es hier um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage hinsichtlich eines an prominenter Stelle agierenden Politikers geht und damit die Auseinandersetzung in der Sache, und nicht - auch bei polemischer und überspitzter Kritik - die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.
276VG Meiningen, Beschluss vom 26. September 2019 - 2 E 1194/19 Me -, juris Rn. 17 - 19.
277Aus zahlreichen Äußerungen Höckes folgen Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis.
278In dem Gesprächsband „Nie zweimal in denselben Fluss“ aus dem Juni 2018 führt Höcke die USA als abschreckendes Beispiel einer misslungenen Politik an. Dort hätten sich die „Weißen“ und die „Schwarzen“ vor ihrer Amerikanisierung aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammengesetzt. Jetzt seien sie in einer Masse aufgegangen. Für Höcke stellt dies einen „Abstieg“ dar, der durch Bewahrung der Völker vermieden werden solle. Dies kann bei verständiger Würdigung nur so verstanden werden, dass Menschen allein bezogen auf ihre Ethnie betrachtet werden, sie also nicht die Möglichkeit erhalten sollen, Teil eines (Staats-)Volkes mit eigener Kultur und Identität zu werden.
279„Es gibt wohl keinen Artikel oder Bericht über mich, in dem nicht zwei bis dreimal das Attribut ‚völkisch‘ auftaucht, meist mit der Verbindung ‚rassistisch‘. Schon diese Wortkombination ist Unfug, denn Völker sind keine Rassen, sondern bestenfalls Legierungen selbiger. Wer den Völkern an den Kragen will, fördert im Grunde den ‚Rassismus‘, denn er verzwergt den Menschen auf sein biologisches Sein. Wir sehen das in den USA: Die ‚Weißen‘ und die ‚Schwarzen‘ setzten sich vor ihrer Amerikanisierung aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen. Jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir vermeiden und die Völker bewahren. [...] Unabhängig davon halte ich die Bezeichnung ‚volksverbunden‘ oder ‚volksfreundlich‘ für besser.“ (Belegsammlung I Bl. 2154, 2284 f.)
280Nach der Vorstellung Höckes ist die Vermischung verschiedener Völker ein „Abstieg“, den es zu vermeiden gelte. Seine Vorstellung geht folglich dahin, das deutsche Volk in seiner „Reinheit“ zu erhalten, wie es auch an anderer Stelle im Gesprächsband deutlich zum Tragen kommt.
281„Völker und Kulturen sind in den Augen der Globalisten wertlos und als mögliche mächtige Gegenspieler lästige Störenfriede ihrer bizarren Agenda. Das farbenprächtige Pluriversum ethnisch-kultureller Eigenständigkeiten mit Heimatrecht und Ansiedlungsmonopolen soll abgelöst werden durch eine neuartige Kosmospolis muiltitribaler Gesellschaften mit internationaler Niederlassungsfreiheit. Dieser Prozeß ist schon seit vielen Jahren im Gange, angetrieben von einem antinationalen Netzwerk aus privaten Stiftungen, NGOs und supranationalen Institutionen wie der EU. Das läuft auf eine Art globale Freihandelszone mit entorteten und zersplitterten Menschengruppen hinaus, die dann umso leichter beherrschbar sind.“ (Gutachten I Bl. 384)
282Höcke schlägt als letzten Ausweg, wenn die Erhaltung eines nach seinen Vorstellungen ethnisch homogenen deutschen Volkes nicht gelingen sollte, den Rückzug autochthoner Deutscher in „ländliche Refugien“ vor, um dort als neue Keimzelle des deutschen Volkes zu überdauern, bis eine „Rückeroberung“ des Landes möglich sei:
283„Dann haben wir immer noch die strategische Option der ‚gallischen Dörfer‘. Wenn alle Stricke reißen, ziehen wir uns wie einst die tapfer-fröhlichen Gallier in unsere ländlichen Refugien zurück und die neuen Römer, die in den verwahrlosten Städten residieren, können sich an den teutonischen Asterixen und Obelixen die Zähne ausbeißen! Die Re-Tribalisierung im Zuge des multikulturellen Umbaus wird aber so zu einer Auffangstellung und neuen Keimzelle des Volkes werden. Und eines Tages kann aus dieser Auffangstellung einer Ausfallstellung werden, von der eine Rückrückeroberung ihren Ausgang nimmt.“ (Belegsammlung I Bl. 2154, 2403)
284Volksteile, die nicht im beschriebenen Sinne ethnisch rein geblieben seien, weil sie sich als zu schwach oder unwillens gezeigt hätten, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen, sind für ihn „verloren“.
285„Hierin liegt auch meine grundsätzliche Zuversicht und Gelassenheit, die über alle Schreckensszenarien hinausreichen. Ich bin sicher, daß - egal wie schlimm die Verhältnisse sich auch entwickeln mögen - am Ende noch genug Angehörige unseres Volkes vorhanden sein werden, mit denen wir ein neues Kapitel unserer Geschichte aufschlagen können. Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen. Aber abgesehen von diesem möglichen Aderlaß haben wir Deutschen in der Geschichte nach dramatischen Niedergängen eine außergewöhnliche Renovationskraft gezeigt. Denken sie an den 30-jährigen Krieg oder den Zusammenbruch 1945. Ob wir es noch einmal schaffen werden, ist nicht sicher, aber es gibt berechtigte Hoffnung auf eine Erneuerung.“ (Belegsammlung I Bl. 2154, 2406)
286Damit bringt Höcke ersichtlich zum Ausdruck, dass er afrikanische, (nah-)östliche oder muslimische Zuwanderer ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit nicht als Deutsche ansieht, und auch nur die nicht „afrikanisierten, orientalisierten und islamisierten“ Volksteile als wirkliche Angehörige des deutschen Volkes begreift,
287so auch VG Berlin Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 97.20, BeckRS 2020, 14940 Rn. 38-40, beck-online Rn. 38.
288In seiner Kyffhäuserrede 2018 plädierte er für eine Aufklärungskampagne im „arabisch-afrikanischen“ Raum, um dort jungen Männern unmissverständlich die Botschaft zu vermitteln:
289„No way! Selbst wenn wir es wollten, es kann und wird für euch keine Heimat in Deutschland und Europa geben können!“ (Gutachten I Bl. 328, 11. Juli 2018)
290Darin kommt ein grundsätzlicher, naturgegebener Ausschluss, Menschen aus dem „arabisch-afrikanischen“ Raum aufzunehmen, zum Ausdruck.
291Die von Höcke im Verfahren vorgetragene „Klarstellung“ ändert hieran nichts. Dass Höcke damit gemeint haben will, dass ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland an die Integration in die deutsche und europäische Kultur gekoppelt sein sollte (Anlage K9), verkehrt den Aussagegehalt ins Gegenteil. Dort ist gerade von einer ausnahmslosen Ablehnung des Aufenthalts die Rede.
292Höcke sieht die von ihm ersehnte „neue politische Führung“ ausschließlich den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und demnach nicht den deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund.
293„Vor allem eine neue politische Führung wird dann schwere moralische Spannungen auszuhalten haben: Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.“ (Belegsammlung I, Bl. 2154, 2404)
294Höcke lehnt auch die Möglichkeit der Integration ab. Er fordert vielmehr eine Assimilation oder „Akkulturation“.
295„Also, eine dauerhafte Integration oder besser Assimilation - wir sollten auch von Assimilation, nicht von Integration sprechen, denn der Integrationsbegriff, den wir aus der Mathematik kennen, bedeutet eben, dass durch den Integrationsprozess von zwei Größen etwas Neues entsteht. Die Deutschen sind aber niemals gefragt worden, ob sie sich im eigenen Lande integrieren wollen. Deswegen favorisiere ich - und das sollten Sie auch tun - den Assimilationsbegriff.“ (Belegsammlung I Bl. 4834, 4841, 21. November 2015)
296„Denn Integrieren bedeutet ein gegenseitiges Verändern und ich will mich überhaupt gar nicht verändern. Diese Menschen, die Deutschen werden wollen, von denen verlangen wir nicht, dass sie sich integrieren, natürlich verlangen wir von diesen Menschen, dass sie sich hier assimilieren.“ (Gutachten I Bl. 357, 26. Oktober 2016)
297„Ich kann Integration nicht mehr hören, liebe Freunde. Wir können Integration nicht mehr hören. Wir wollen keine Integration. Wir wollen uns nicht im eigenen Land an fremde Kulturen anpassen. Wir wollen mit denen Zusammenleben, mit denen wir bisher auch schon gelebt haben. Und zwar jetzt und in Zukunft, liebe Freunde.“ (Belegsammlung I Bl. 1985, 1992, 17. Juni 2018)
298Hier wird erkennbar, dass es Höcke nicht um den Erhalt der deutschen Kultur geht, sondern um einen kategorischen Ausschluss von Zuwanderung. Soweit Zuwanderung überhaupt akzeptiert wird, reiche eine Integration nicht aus, sondern soll eine vollständige Assimilierung erforderlich sein.
299Die Forderung der Assimilation steht der Zielsetzung des ethnischen Erhalts des deutschen Volkes nicht entgegen. Denn wie die Beklagte zutreffend darlegt, ist in den Augen des Flügels Vergleichsmaßstab für die geforderte Assimilation nicht das deutsche Volk als die Gesamtheit der Staatsangehörigen, sondern der autochthone Deutsche. Dieser Begriff meint im völkerkundlichen Sinne eingeboren, einheimisch oder indigen,
300https://www.duden.de/rechtschreibung/autochthon.
301Indigen meint die erste, ursprüngliche Bevölkerung eines Gebiets betreffend oder diesem zugehörig,
302https://www.duden.de/rechtschreibung/indigen.
303sodass ihrerseits eingewanderte oder einen Migrationshintergrund aufweisende deutsche Staatsangehörige in der Vorstellung des Flügels keine adäquate Vergleichsgruppe sind. Es existieren nach der Vorstellung des Flügels demnach deutsche Staatsangehörige erster und zweiter Klasse. Idealbild ist der autochthone Deutsche. Mit dem genannten Maßstab werden alle Deutschen ausgegrenzt, die nicht zu den autochthonen Deutschen zählen, da sie eingewandert sind oder einen Migrationshintergrund aufweisen. Diese Klassifizierung ist auch für den Einzelnen unveränderlich, da er auf einem ethnischen - und nicht auf einem kulturellen - Kriterium beruht,
304vgl. auch VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 97.20 -, BeckRS 2020, 50933, beck-online Rn. 44; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 - (JA), juris Rn. 36.
305Darüber hinaus ist die Forderung nach vollständiger Assimilation kaum oder jedenfalls nur bei einer vollständigen Aufgabe der kulturellen Wurzeln denkbar.
306Auch Aussagen anderer Flügel-Repräsentanten enthalten - neben der oben zitierten Verwendung überkommener Kampfbegriffe - Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Vorstellungsbild.
307Ein völkisches Verständnis kommt etwa in der Kyffhäuserrede Tillschneiders im Jahr 2018 zum Ausdruck:
308„Liebe Kameraden, als wir zusammensaßen, um das heutige Flügeltreffen vorzubereiten, kam die Idee auf, man müsse für die Fußballfans unter uns eine Leinwand besorgen. Ich hatte dafür kein Verständnis und war strikt dagegen. Wer unter uns will sich denn dieses Mannschaft-gewordene Elend der Merkel-Republik anschauen? [...] Eine Mannschaft, zu der Türken mit deutschem Pass gehören, die Erdogan huldigen, die nach Mekka pilgerten und die sich weigern, auch nur die dritte Strophe unserer Nationalhymne zu singen - von der ersten rede ich gar nicht - eine solche Mannschaft, liebe Freunde, ist keine Nationalmannschaft, sondern ein gescheitertes Integrationsprojekt.
309Und deshalb... und deshalb sage ich ganz ehrlich: Ich habe mehr Respekt vor der russischen Nationalmannschaft, die noch eine echte Nationalmannschaft ist. Mehr Respekt als vor dieser bunt zusammengewürfelten Söldnertruppe der Deutschland-AG.
310[...] Es ist mittlerweile so weit gekommen, dass auch der Fußball zu einer ... zu einem abgehobenen Stelldichein internationaler Vagabunden verkommen ist.“ (Belegsammlung I Bl. 4415, 23. Juni 2018)
311Er schloss sich zudem in einem Facebook-Eintrag vom 21. September 2018 ausdrücklich dem ethnokulturellen Konzept der „Identitären Bewegung Deutschlands“ an und bekundete, die Klägerin setze sich dafür ein, das deutsche Volk als „ethnokulturelle Einheit“ zu erhalten.
312„Immer wieder taucht in Erklärungen der Verfassungsschutzämter zur Identitären Bewegung der Begriff ‚Ethnopluralismus‘ auf. ‚Ethnopluralismus‘ bezeichnet den Umstand, daß die Menschheit in Völker gegliedert ist, und verbindet damit die Wertung, daß diese Völker mit ihrer je eigenen Kultur erhaltenswert sind - eine in höchsten Maß vernünftige, wirklichkeitsbezogene Ansicht. Nichts anderes ist auch das Leitmotiv des AfD-Programms. [...] [W]ir setzen wir uns auf allen Gebieten dafür ein, die ethnokulturelle Einheit, die sich deutsches Volk nennt, zu erhalten.“ (Gutachten I Bl. 220)
313„Wenn wir angesichts dieses Szenarios von einer Zusammenarbeit mit der IB vorerst Abstand nehmen, erfüllen wir damit nicht das Kalkül des Verfassungsschutzes, wir durchkreuzen es. ‚Projekthygiene‘ hat Götz Kubitschek es einmal genannt. Wir lösen eine Verbindung, die der IB nichts nützt, uns aber schadet. Trotz einer strukturellen Entflechtung halten wir aber selbstverständlich an allem fest, wofür wir stehen und wofür auch die IB steht.“ (Belegsammlung I Bl. 3040 f., 21. September 2018)
314Das von der Identitären Bewegung verfolgte Konzept der „ethnokulturellen Identität“ stellt nach Auffassung mehrerer Gerichte einen Verstoß gegen die Menschenwürde dar.
315vgl. VG Ansbach, Urteil vom 25. April 2019 - AN 16 K 17.01038 -, juris Rn. 39 ff.; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 63 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. November 2019 - 1 M 119.19 -, juris Rn. 11; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 - OVG 1 N 96.20 -, juris Rn. 9 ff.
316Dr. Christina Baum forderte in einem Facebook-Beitrag vom 13. Juni 2017, das „Wahlrecht nach Abstammung“ wieder einzuführen:
317„Wir brauchen wieder das Wahlrecht nach Abstammung, wie es vor 2000 war. Ansonsten werden in Zukunft Özdemirs und Özuguzes die politischen Entscheidungen in Deutschland herbeiführen - aller Voraussicht nach gegen den Willen der ethnischen deutschen Bevölkerung.“ (Gutachten I Bl. 138 mit Fn. 280)
318Die Forderung nach einer Veränderung des Wahlrechts, das nicht mehr an die Staatsangehörigkeit, sondern die Abstammung anknüpft, wäre aber ersichtlich eine unzulässige Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger mit Migrationshintergrund.
319Auch Jens Maier äußerte auf einer Veranstaltung der JA am 17. Januar 2017 ein völkisches Verständnis:
320„Diese ganze Entwicklung, die jetzt gerade stattfindet, die Herstellung von Mischvölkern, um die nationalen Identitäten auszulöschen und damit die Abgabe der Souveränität an die EU - das ist einfach nicht zu ertragen.“ (Gutachten I Bl. 142).
321Dass die genannten Verlautbarungen und Äußerungen nach den oben genannten Maßstäben dem Flügel zugerechnet werden können, ist entgegen der Auffassung der Klägerin augenscheinlich.
322Es handelt sich vorliegend ganz überwiegend um Zitate von Erstunterzeichnern der Erfurter Resolution und damit führender Repräsentanten des Flügels. Bei Björn Höcke und Andreas Kalbitz handelt es sich um die führenden Köpfe des Flügels, die beide regelmäßig Reden auf den Kyffhäusertreffen gehalten haben. Dies ergibt sich auch eindrücklich daraus, dass beide in einer gemeinsamen Erklärung die formale Auflösung des Flügels kundgetan haben. Auch die anderen Personen werden zum Teil selbst vom Flügel als deren Spitzenkandidaten bezeichnet oder waren als Landesobleute eingesetzt. Überdies ist eine Distanzierung von Seiten des Flügels in keinem Fall erfolgt.
323Auch können die Aussagen von Kalbitz vorliegend dem Flügel zugerechnet werden, denn im hier maßgeblichen Zeitpunkt der rechtlichen Beurteilung war Kalbitz jedenfalls noch Mitglied der Klägerin und des Flügels. Darüber hinaus war die mit dem Beschluss ihres Bundesvorstandes vom 15. Mai 2020 erfolgte Aufhebung der Mitgliedschaft von Kalbitz nicht dessen Wirken für den Flügel geschuldet, sondern fußte darauf, dass er „nach Überzeugung der Mehrheit des Bundesvorstandes bei seiner Aufnahme die frühere Mitgliedschaft in der rechtsextremen und heute verbotenen ‚Heimattreuen Deutschen Jugend‘ verschwiegen hatte“. Eine Distanzierung von den Aussagen Kalbitz‘ hat daher weder seitens der Klägerin noch seitens des Flügels stattgefunden. Dies zeigt sich auch darin, dass Kalbitz nach wie vor (parteiloses) Mitglied der brandenburgischen Landtagsfraktion der Klägerin ist und zusammen mit Vertretern der Klägerin bei Wahlkampfveranstaltungen auftritt (vgl. Bl. 297 ff. der Gerichtsakte - GA - zum Az. 13 L 105/21).
324Es ergibt sich hinsichtlich der Beurteilung des Volksverständnisses auch nichts anderes aus dem Umstand, dass der Flügel nicht von einem rein ethnischen, sondern einem ethnisch-kulturellen Volksverständnis spricht. In diesem Kontext trägt die Klägerin vor, dass das Volksverständnis „maximal inklusiv“ sei und auch Zuwanderer einschließe, die sich dem deutschen Volk kulturell zugehörig fühlten. Auch aus der im Januar 2021 abgegebenen Erklärung folge, dass die Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit von Zugewanderten und deren rechtlichen Status akzeptiere.
325Abgesehen davon, dass es einige Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Erklärungen taktisch motiviert sind, ist die politische Forderung nach dem Erhalt der ethnischen Identität des Deutschen Volkes aber ohnehin nicht erst dann verfassungswidrig, wenn sie die rechtliche Ausgrenzung und Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger anderer ethnischer Zugehörigkeit bedeutet und mit der Forderung der Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger wegen ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit verbunden wird,
326anders aber Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, S. 167 ff.
327Völkisch-abstammungsmäßige und rassistische Kriterien verstoßen auch dann gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn sie nicht absolut gelten und es Ausnahmen geben soll. Entscheidend ist die insgesamt verfolgte, objektiv erkennbare Zielrichtung des Personenzusammenschlusses, wie sie sich in der Zusammenschau der vorgelegten Belege ergibt,
328vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juni 2021 - OVG 1 N 96.20 -, juris Rn. 13; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 37; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 -, juris Rn. 37.
329Aus den oben genannten zahlreichen Belegen geht aber hervor, dass der Flügel - zum Teil unter Verwendung rassistischer und martialischer Rhetorik - den Erhalt der deutschen Ethnie verfolgt und ethnische Kriterien damit den Ausschlag für weitere Einbürgerungen geben sollen. Aus den Verlautbarungen des Flügels ergibt sich zudem, dass sehr hohe bzw. nahezu unerreichbare Hürden für eine Einbürgerung aufgestellt werden und als Maßstab der autochthone Deutsche dient (siehe oben), sodass die Vorstellungen des Flügels primär an ethnische Vorstellungen anknüpfen und das kulturelle Element allenfalls untergeordnete Bedeutung hat.
330Des Weiteren greift der Einwand der Klägerin nicht, der Flügel verbinde mit seinem Volksverständnis keine politische Forderung oder ein Handlungskonzept, sodass jedenfalls keine Bestrebung im Sinne des Gesetzes vorliege.
331Es kann dahinstehen, ob ein planvolles Vorgehen zu erkennen ist, das kontinuierlich auf die Verwirklichung eines der freiheitlich demokratischen Grundordnung widersprechenden politischen Konzepts hinarbeitet. Denn ein solches Vorgehen ist im Rahmen der hier streitgegenständlichen Verdachtsfalleinstufung nicht erforderlich. Das von der Klägerin in den Raum gestellte Kriterium muss vielmehr erst im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 1 GG vorliegen,
332vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 ‑, BVerfGE 144, 20 Rn. 575 f. zum Tatbestandsmerkmal des „Darauf Ausgehens“.
333Die Kriterien des Art. 21 Abs. 2 GG sind vorliegend aber - wie bereits ausgeführt - nicht einzuhalten, da es sich nicht um ein Parteiverbotsverfahren in diesem Sinne handelt.
334Denn - wie oben bereits dargelegt - erfordert der Begriff der „Bestrebung“ - in Abgrenzung insbesondere zur bloßen Meinungsäußerung - ein aktives, aber nicht notwendigerweise kämpferisch aggressives Vorgehen zur Realisierung eines bestimmten Ziels. Es bedarf Aktivitäten, die über eine bloße Missbilligung oder Kritik an einem Verfassungsgrundsatz hinausgehen,
335BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 -, BVerfGE 113, 63 (81 f.); BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 59; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 42; VG Düsseldorf, Urteil vom 28. Mai 2013 - 22 K 2532/11 -, juris Rn. 74 ff.
336Die Repräsentanten des Flügels äußern ihre Kritik gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung und ihr Verständnis von der Volkszugehörigkeit nach den obigen Feststellungen massiv und mit martialischer Rhetorik in der Öffentlichkeit. Dies auch im Kontext von Wahlen, wo sie um Unterstützung für die politische Agenda der Klägerin werben. Die Vertreter des Flügels belassen es nicht bei der reinen Kritik. Der Flügel hat die Migrationspolitik erkennbar zu einem seiner zentralen Anliegen gemacht und formuliert dort auch Ziele, deren Umsetzung er anstrebt.
337Dass es sich nicht um bloße Kritik handelt, sondern der Flügel auch die Umsetzung seiner Positionen zum Ziel hat, zeigt sich auch an einem Zitat von Höcke aus seinem Buch aus dem Jahr 2018. Dort kündigt er ganz gravierende gesetzgeberische Änderungen an und formuliert einen Ausblick für den Fall, dass seine Positionen mehrheitsfähig werden:
338„Ein paar Korrekturen und Reförmchen werden nicht ausreichen. Aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, daß wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen. Dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt, denn die größten Probleme von heute sind ihr anzulasten.“ (Belegsammlung I Bl. 2154, 2406 f. = S. 257 f. des Buches)
339Davon abgesehen liegt es bei Meinungsäußerungen, die von oder innerhalb einer politischen Partei abgegeben werden, ohnehin zumindest nahe, dass sie mit der Intention einer entsprechenden Änderung der realen Verhältnisse abgegeben werden; denn politische Parteien sind gerade auf Änderung der politischen Verhältnisse ausgerichtet,
340BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275, Rn. 61; VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2016 - VG 1 K 255.13 -, juris Rn. 29; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 ‑, BeckRS 2020, 50933 Rn. 26.
341Charakteristisches Ziel von Parteien ist die Einflussnahme auf die politische Willensbildung gem. § 2 Abs. 1 PartG. Das Aktivitätselement ist in der politischen Partei generell angelegt. Deshalb kann von der Vermutung ausgegangen werden, dass Meinungsäußerungen mit der Intention einer entsprechenden Änderung der realen Verhältnisse abgegeben werden. Kritik an einem Verfassungsgrundsatz beispielsweise, die von einem hohen Parteifunktionär geäußert wird, bringt regelmäßig zugleich den Willen zum Ausdruck, eine entsprechende Änderung der Verfassung durch politische Aktivität herbeizuführen, den Willen nämlich, nach Erringung der Macht die Verfassung entsprechend zu ändern,
342so auch Murswiek, NVwZ 2006, 121 (128).
343Dies gilt naturgemäß ebenso für die einer Partei zugehörigen Teilorganisationen. Ziel des Flügels ist ausweislich der Erfurter Resolution den „innerparteilichen Meinungsbildungsprozess“ in dem Geist ihrer „Lösungsansätze“ mitzugestalten. Beabsichtigt ist daher, als stärker werdende Teilorganisation Einfluss auf die Beschlüsse der Klägerin zu nehmen.
344Die Klägerin wurde gemäß der Präambel in ihrer Bundessatzung „in ernster Sorge vor politischen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in Deutschland und in der Europäischen Union“ und gerade als Alternative zu den bislang im Bundestag vertretenen Parteien und der damit verbundenen Politik gegründet,
345AfD, Bundessatzung, Stand: 1. Juli 2021, abrufbar unter https://www.afd.de/satzung/ [abgerufen am 22. Februar 2022].
346Sie ist folglich von ihrem Gründungszweck gerade auf die Veränderung der Politik und damit denklogisch auch der gesetzlichen Regelungen ausgerichtet. Dass also Verlautbarungen von (führenden) Repräsentanten des Flügels - zumal mit der oben zitierten Emotion und Rhetorik - nicht mit der Veränderung der bisherigen Politik und der gesetzlichen Regelungen im Falle einer Mehrheitsbeteiligung verbunden sein sollen, ist vor diesem Hintergrund ersichtlich fernliegend.
347Es kann auch dahinstehen, ob es den einzelnen Akteuren des Flügels gerade auf den verfassungsfeindlichen Erfolg ankommt. Denn dies ist für eine Einstufung und Beobachtung - jedenfalls des Personenzusammenschlusses - nicht erforderlich. § 4 Abs. 1 BVerfSchG setzt selbst für die Beobachtung der Verhaltensweisen von Personen, die in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln oder die als Einzelpersonen tätig sind, keinen einschränkenden subjektiven Tatbestand voraus, sondern lässt die Verwirklichung des objektiven Tatbestands für die Beobachtung der Einzelperson genügen,
348vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 69; OVG NRW, Urteil vom 13. Februar 2009 - 16 A 845/08 -, juris Rn. 108; VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 -, juris Rn. 71; Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 39; a. A. Warg, a.a.O., S. 541.
349Die Anhaltspunkte entfallen auch nicht dadurch, dass der Flügel von seinen Positionen abgerückt oder gegen die oben genannten Tätigkeiten und Äußerungen (konsequent) eingeschritten wäre.
350Die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin vom 18. Januar 2021, die auch von Björn Höcke unterzeichnet worden ist, ändert an der Beurteilung des Flügels nichts. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit ist hier der 15. Januar 2019.
351Es ergibt sich auch keine abweichende Beurteilung durch die im Verfahren vorgetragenen „Klarstellungen“ der Repräsentanten des Flügels. Dies kann schon dahinstehen, da die Klarstellungen nur einen Teil der oben genannten Zitate und auch nur einen Teil der zitierten Akteure betreffen. Dies lässt eher den Umkehrschluss zu, dass die anderen Zitate von der Beklagten zutreffend als Anhaltspunkte gewertet worden sind.
352Darüber hinaus und unabhängig davon sind die Erklärungen auch inhaltlich nicht geeignet, die oben festgehaltenen Schlüsse in Frage zu stellen. Es handelt sich vielmehr um Lippenbekenntnisse, die aus prozesstaktischen Erwägungen abgegeben worden sind, um den Erklärungen eine Mehrdeutigkeit beizumessen, die aber nicht existiert bzw. die Aussagen trotz einer Mehrdeutigkeit auch beim unbefangenen Zuhörer einen eindeutigen Schluss nahelegen. Es ist nicht angezeigt, klar erkennbare extremistische Äußerungen gegen jede Logik so zu interpretieren, dass sie noch als verfassungskonforme Meinungsäußerung durchgehen. Bei der Bewertung einer Äußerung sind nahe liegende und sich aufdrängende Deutungen zu Grunde zu legen; die abstrakte Interpretierbarkeit ändert daran nichts,
353vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, juris Rn. 31; OVG NRW, Beschluss vom 24. Mai 2007 - 5 A 4719/05 -, juris Rn. 4; Warg, a.a.O., S. 528.
354So räumt Höcke in seiner „Klarstellung“ vom 4. März 2020 (Anlage K9) etwa ein, dass er den Wunsch nach Erhalt eines Volkes im ethnisch-kulturellen Sinn verfolgt. Er stelle aber nicht das Niederlassungsrecht und die Staatsbürgerschaft in Frage und er strebe das Ziel nicht mit verfassungsfeindlichen Mitteln an. Auch sei eine Zuwanderung im Falle der Integration möglich.
355Diese Äußerungen stehen aber im Widerspruch zu den o.g. Zitaten. Dort spricht Höcke von der „Auflösung“ des Volkes und vom „Volkstod“. Damit meint er ersichtlich - wie er an anderer Stelle auch ausdrücklich zum Ausdruck bringt - die Vermeidung einer Vermischung verschiedener Ethnien. Er betont auch klar, dass er die Integration gerade nicht ausreichen lassen möchte. Unter Verwendung von martialischer Rhetorik gibt er das Ziel aus, einschneidende Änderungen herbeizuführen und Angehörigen einer anderen Ethnie kein Aufenthaltsrecht zu ermöglichen.
356Die in den Äußerungen Höckes und der Klägerin zum Ausdruck kommende Behauptung, der Flügel verwende einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff rein deskriptiv und verbinde damit keine verfassungsfeindliche politische Forderung, verfängt nicht. Der Flügel verwendet diesen Begriff nicht allein zur Beschreibung der Situation aus seiner Sicht. Er verbindet damit Wertungen, die zu einer Abwertung zugewanderter Menschen führen. Die ablehnende Haltung wird durch die Verwendung von martialischen Begriffen verstärkt. Der Erhalt der „ethnisch-kulturellen Identität“ wird zum Postulat erhoben.
357Dass sich Tillschneider nicht gegen die „Auflösung“ des Volkes durch Einwanderung ausspricht, wird bereits dadurch widerlegt, dass er selbst den Begriff der Umvolkung verwendet und verteidigt. Seine Äußerungen zur Fußball-Nationalmannschaft beziehen sich auch nicht allein auf die beiden Spieler Gündogan und Özil. Er diffamiert vielmehr generell Nationalspieler mit Migrationshintergrund. Das zeigt sich daran, dass er die russische Nationalmannschaft im Gegensatz zur Deutschen anerkennen will. Dies liegt aber offensichtlich nicht an dem Verhalten zweier Spieler, sondern daran, dass überhaupt Spieler mit Migrationshintergrund mitspielen.
358Jedenfalls verbleiben auch nach den genannten „Klarstellungen“ im Rahmen einer Gesamtwürdigung Zweifel und daher tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen.
359Neben dem verfassungsfeindlichen Volksverständnis des Flügels ist in den Äußerungen der Repräsentanten des Flügels auch eine massive ausländerfeindliche Agitation festzustellen, die im Ergebnis Ausdruck einer Missachtung der Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt,
360so auch VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 97.20, beck-online Rn. 41.
361Dies gilt insbesondere für solche Äußerungen über Asylbewerber und Migranten, die vielfach durch pauschale Verdächtigungen und Herabwürdigungen geprägt sind. Wenn Einwanderer beziehungsweise Menschen fremder ethnischer Zugehörigkeit pauschal als minderwertig, als Schmarotzer oder als kriminell bezeichnet oder in anderer Weise verächtlich gemacht werden, so liegt darin eine Missachtung ihrer Menschenwürde,
362vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20 Rn. 707 ff.
363Die von der Beklagten vorgelegten Belege enthalten Bekundungen, die im Hinblick auf die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot, den Verdacht einer verfassungswidrigen Bestrebung begründen.
364Es ist zunächst eine pauschale Verdächtigung von Ausländern als Kriminellen und eine Verunglimpfung festzustellen.
365Auf einer Kundgebung am 13. Mai 2016 verwendete Höcke die Gleichsetzung von multikulturell und multikriminell:
366„Ich will keine multikulturelle Gesellschaft, weil multikulturelle Gesellschaften multikriminelle Gesellschaften sind.“ (Belegsammlung I Bl. 4884, 4887)
367Die im Zuge der Flüchtlingskrise nach Deutschland gekommenen Menschen bezeichnet Höcke pauschal als „Wölfe“, die nun die zu „Schafen“ gemachte deutsche Jugend gefährdeten:
368„Unsere Jugend haben die böswilligen Gutmenschen in den Kindergärten, Schulen und Universitäten zu Schafen gemacht, während sie jetzt dabei sind, die Wölfe ins Land zu lassen.“ (Belegsammlung I Bl. 1985, 1996, 17. Juni 2018)
369Jörg Urban warnte Mädchen davor, „eine Beziehung zu jungen Männern aus der Messerkultur einzugehen“ (Belegsammlung I Bl. 1836, 19. Februar 2018).
370In einem Facebook-Beitrag vom 11. Juni 2018 bezeichnet er muslimische Flüchtlinge pauschal als Vergewaltiger und Mörder:
371„Junge Mädchen als Schlachtvieh
372wieder wurde ein junges Mädchen ermordet. Wieder sind wir entsetzt, wohin sich unser Land entwickelt.
373Es muss aber auch klar gesagt werden, dass viele junge Mädchen heute geradezu in die Arme ihrer Vergewaltiger und Mörder gedrängt werden. Politiker, Journalisten, Kirchen, Lehrer, Vereine - alle reden den Menschen ein, dass man ‚Flüchtlinge‘ nicht diskriminieren darf, sondern dass man sich um sie kümmern muss.
374Jede natürliche Vorsicht vor Fremden wird den Mädchen abtrainiert. Wobei Vorsicht mehr als angebracht wäre, bei Männern, die Frauen als minderwertig betrachten und europäisch gekleidete Mädchen als Huren.
375Die verschiedensten Vertreter der Asylindustrie und des Gutmenschentums treiben unsere Mädchen zur Schlachtbank der Willkommenskultur.
376Liebe Eltern! Macht das, was Schule, Kirche, Politik und Medien eigentlich tun müssten: Warnt Eure Mädchen eindringlich vor jedem Kontakt mit muslimischen Jungs und Männern! Und stellt die Verantwortlichen an den Pranger, die Kennenlern-Treffen organisieren und Willkommenskultur predigen!
377Nehmt es selbst in die Hand! Holt euch euer Land zurück!“ (Belegsammlung I Bl. 1834)
378Urban stellt Migration damit vordergründig in den Kontext von Ausländerkriminalität. Mit den genannten Äußerungen werden Ausländer bzw. Migranten nachhaltig und generalisierend mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Mit Begriffen wie der „Messerstichkultur“ wird eine Verbindung zwischen ausländischer Herkunft und Kriminalität aufgezeigt, die geeignet ist, Ausländer insgesamt herabzusetzen. Die Repräsentanten des Flügels treffen pauschalisierende Aussagen und bringen zum Ausdruck, dass Flüchtlinge generell gefährlich sind und Straftaten begehen. Die Wortwahl, Diktion und Inhalt sind erkennbar darauf ausgerichtet, Migranten ihre Menschenwürde abzusprechen,
379so auch VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 97.20 ‑, beck-online Rn. 41 f.
380Höcke beschreibt Migranten durchgehend pauschal als bildungsfernen und unqualifiziert:
381„Und es ist doch, es ist doch völlig egal, ob jetzt in den nächsten vier Jahren 800.000 kommen, ob eine Million kommen oder ob 1,5 Millionen kommen. Es werden dieselben unqualifizierten Armutszuwanderer sein, die man seit zwei Jahren verstärkt und auch schon vorher ins Land gelassen hat. Das sind also Menschen, die unserem Land nichts nützen, sondern die unsere Sozialsysteme auf das Schlimmste belasten.“ (Belegsammlung I Bl. 4924, 4925 f., 28. Januar 2018)
382Flüchtlinge werden zudem als „Invasoren“ bezeichnet. So sprach Kalbitz auf dem Kyffhäusertreffen 2018:
383„Jetzt Schluss mit dieser ganzen Masseneinwanderung, kulturfremde Masseninvasion! [...] Wir wollen die gar nicht integrieren, wir wollen die remi-grieren. Masseneinwanderung ist Messereinwanderung“ (Belegsammlung I Bl. 4536, 4539, 23. Juni 2018 sowie Videos Gutachten I DVD 006 Video 809c Zeit 00.11.23 ff.)
384Der Flügel verbindet seine ausländerfeindliche Agitation mit der Forderung nach Abschiebungen und „Remigration“. Höcke bekundete in seiner Rede auf dem Kyffhäusertreffen 2018:
385„Langfristig, liebe Freunde, stehen die Auflösung der Parallelgesellschaften sowie die Re-Migrationsprogramme, die natürlich De-Islamisierungsprogramme inkludieren, auf der Tagesordnung.“ (Belegsammlung I Bl. 4470, 4479)
386Auch Kalbitz forderte auf dem Kyffhäusertreffen 2018 „Re-Migration jetzt!“ (Gutachten I Bl. 330).
387Im Rahmen der ausländerfeindlichen Agitation stechen ferner muslimfeindliche Äußerungen hervor, in denen die grundsätzliche Ablehnung des Islam kundgetan und nicht zwischen Islam und Islamismus differenziert wird.
388Der Flügel teilte am 10. Januar 2018 aus seiner Facebook-Seite eine zuvor von Höcke veröffentlichte Grafik mit der Forderung „Kein Asyl für Muslime in Deutschland!“ (BA 1, B41).
389Der Flügel beabsichtigt folglich, die Zuerkennung eines Asylstatus von der Religionszugehörigkeit abhängig zu machen. Damit wird der Wesenskern des Asylrechts, politisch - auch aufgrund ihrer Religion - Verfolgten Zuflucht zu gewähren, konterkariert. Auch folgt daraus eine Diskriminierung der Asylsuchenden muslimischen Glaubens. Dies verstößt erkennbar gegen Art. 4 Abs. 1 GG und das Diskriminierungsverbot als Ausprägung des Menschenwürdegrundsatzes des Art. 1 Abs. 1 GG.
390Die Rechtfertigung der Klägerin, das Grundrecht auf Asyl sei nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst und könne daher auch vollständig aufgehoben werden, ändert vorliegend nichts an der Beurteilung der konkreten Ausgestaltung. Die Ausgestaltung dergestalt, dass das Asylrecht und damit der Schutz vor politischer Verfolgung allein aufgrund der Glaubenszugehörigkeit des Verfolgten ausgeschlossen sein soll, verstößt gegen Art. 1 Abs. 1 (und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 4 Abs. 1) GG.
391Nach dem Verständnis von Höcke hat der Islam seinen Raum und Platz ausschließlich außerhalb Europas. Er bezeichnet den Islam als „Besatzungsmacht“ und nicht mit Demokratie, Rechtsstaat und Volkssouveränität für vereinbar:
392„Der Islam hat einen Raum und hat einen Platz auf dieser Welt und ich und wir wollen dem Islam diesen Platz und diesen Raum und diesen Ort und diese Heimat nicht streitig machen. Aber wir verwehren dem Islam als Okkupationsmacht, als Besatzungsmacht den Zutritt nach Europa und nach Deutschland.“ Belegsammlung I Bl. 1563, 1572, 14. Mai 2018)
393„Ich bin in religiösen Dingen tatsächlich tolerant. Ich sage aber, der Islam, der ist mit unseren Wertvorstellungen, mit unserer Art zu leben, tatsächlich unvereinbar. Der Islam, er hat eine Heimat. Das ist der Orient und meinetwegen Schwarzafrika, aber seine Heimat heißt nicht Sachsen-Anhalt, Deutschland und Europa!“ (Belegsammlung I Bl. 5012, 5016 f., 23. Januar 2018)
394„Also auch schon strukturell, auch mit seinem Geist ist der Islam nicht mit dem demokratischen Rechtsstaat kompatibel. [...] und nichts anderes ist der Islam -, [der] mit Demokratie, Rechtsstaat Volkssouveränität nichts am Hut hat [...]“ (Belegsammlung I Bl. 5004, 5007 f., 3. November 2016)
395Als Ziel gibt Höcke die De-Islamisierung aus, also den Ausschluss aller dem Islam angehörenden Bürgerinnen und Bürger:
396„Das, was wir jetzt noch nicht durchsetzen können, weil wir jetzt noch nicht die Macht haben, aber wir werden die Macht bekommen und dann werden wir das durchsetzen ... dann werden wir das durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch euer ... unser freies Leben leben können. Dann werden wir nämlich die Direktive ausgegeben, dass am Bosporus mit den drei ‚großen M‘, das heißt Mohammed, Muezzin und Minarett Schluss ist, liebe Freunde. [...] Wir müssen die De-Islamisierung Deutschlands und Europas vorbereiten.“ (Belegsammlung I Bl. 5012, 5016 f., 23. Januar 2018)
397Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität verbietet dem Staat allerdings die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung anders Gläubiger. Einzelne Religionen dürfen gegenüber anderen weder bevorzugt noch benachteiligt werden,
398BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - 2 BvR 661/12 -, juris Rn. 86.
399Der Staat ist daher nicht befugt, Programme (welcher Art auch immer) aufzulegen, die die Ausreise von Anhängern bestimmter Religionen zum Ziel haben.
400Tillschneider erkennt den Islam zwar als Religion an, meint aber, dass Grenzen gesetzt werden müssten.
401„Die Grenzen aber, in denen er dies kann, diese Grenzen setzen wir. Jede Berufung auf die Religionsfreiheit muß unter den stärkstmöglichen Kulturvorbehalt gestellt werden. Die Väter des Grundgesetzes hatten, als sie Art. 4 formulierten, die Situation eines zwischen Protestantismus und Katholizismus geteilten Landes vor Augen; sie haben ganz sicher nicht die Anwesenheit von Millionen von Muslimen vorhergesehen. Das Grundgesetz ist nicht für den Islam gemacht.“ (Belegsammlung I Bl. 4673 ff., 31. Januar 2016)
402„Die Vertreter der Islamverbände maßen sich an, uns vorzuschreiben, wie wir leben sollen. Sie maßen sich an, hier mitzubestimmen und unser Land zu verändern. [...] Pustekuchen! Wenn sie sich fügen, dürfen sie in dem Rahmen, den wir ihnen anweisen, ihre Religion praktizieren und darüber hinaus haben sie nichts zu melden.“ Belegsammlung I Bl. 4443, 4447, 13. September 2017)
403Daraus folgt, dass Anhängern des Islam nur eine eingeschränkte Ausübung ihrer Religion zugebilligt wird. Das Grundgesetz macht aber - anders als Tillschneider meint - keinen Unterschied zwischen den unterschiedlichen Religionen.
404Art. 4 GG garantiert als Menschenrecht in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Der einer Religionsgemeinschaft zukommende Grundrechtsschutz umfasst das Recht zu eigener weltanschaulicher oder religiöser Betätigung, zur Verkündigung des Glaubens und zur Pflege und Förderung des Bekenntnisses. Hierzu gehören nicht nur kultische Handlungen einschließlich der Beachtung und Ausübung religiöser Gebote und Gebräuche wie Gottesdienst, Gebete und Prozessionen, sondern auch die religiöse Erziehung, Feiern und andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens sowie allgemein die Pflege und Förderung des jeweiligen Bekenntnisses,
405BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2006 - 2 BvR 1908/03 -, juris Rn. 20.
406Indem sich die Vertreter des Flügels gleichermaßen undifferenziert gegen Menschen muslimischen Glaubens positioniert haben und ihnen nur eine eingeschränkte Ausübung ihrer Religion zugestehen, ist ein Verstoß gegen die grundgesetzlich geschützte Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zu attestieren,
407so auch VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 97.20 ‑, beck-online Rn. 42.
408Daneben bestehen ebenfalls Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip. Insbesondere werden mit Begriffen „Systempresse“ (Belegsammlung I Bl. 4689) oder „Systemparteien“ bzw. „Kartellparteien“ (Gutachten I Bl. 370; Belegsammlung I, Bl. 1384, 1397; 2154, 2388; 4760, 4764) wesentliche Bestandteile der verfassungsmäßigen Ordnung diffamiert und infrage gestellt,
409vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 25. März 1993 - 1 ER 01.92 ‑, juris Rn. 34; BVerwG, Gerichtsbescheid vom 6. August 1997 - 1 A 13.92 - , juris Rn. 51
410Damit wird im Grunde allen anderen Parteien unabweisbar und unversöhnlich die Existenzberechtigung im Sinne einer gleichberechtigten und für die Dauer bestimmten Partnerschaft abgesprochen. Das Mehrparteienprinzip wird als eines der Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Ordnung in Zweifel gezogen,
411BVerwG, Urteil vom 20. Mai 1983 - 2 WD 11.82 -, BVerwGE 83, 136 = juris Rn. 492.
412Zusammenfassend lässt sich im Wege der Gesamtschau feststellen, dass sich im maßgeblichen Zeitpunkt hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen aus den Verlautbarungen des Flügels und der Erstunterzeichner der Erfurter Resolution und damit der führenden Repräsentanten des Flügels entnehmen lassen. Es handelt sich bei den genannten Zitaten um Äußerungen von führenden Repräsentanten. Diese Äußerungen sind daher von hinreichendem Gewicht und liegen in ausreichender Zahl vor.
413Es finden sich viele Äußerungen, die die Menschenwürdegarantie verletzen. Das in den Äußerungen zutage geförderte Volksverständnis widerspricht dem im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Verständnis und ist geeignet, Zugehörige einer anderen Ethnie auszugrenzen und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Es tritt das Ziel zutage, Migranten - insbesondere Muslime - auszugrenzen und verächtlich zu machen.
414Es handelt sich bei der Vielzahl der Äußerungen erkennbar nicht (mehr) um bloße Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses, die sich von der Linie des Flügels abheben würden. Aus dem Grundtenor der zitierten Aussagen lässt sich ableiten, dass das Volksverständnis und die ausländerfeindliche Agitation Ausdruck eines generellen Bestrebens des Flügels sind.
415Dahinstehen kann, über wie viele Mitglieder der Flügel und demnach über welchen Anteil er in der Klägerin verfügt. Denn es geht hier um die Beurteilung des Flügels als Personenzusammenschluss. Welchen Einfluss der Flügel innerhalb der Klägerin hat, ist für die Frage der Einstufung der Klägerin (13 K 326/21) und in dem Verfahren 13 K 325/21 relevant.
416Die von der Beklagten vorgelegten Belege sind auch verwertbar. Es ergibt sich kein Verwertungsverbot aus einer unzulässigen Datenerhebung. Wegen des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG liegt vielmehr gerade eine rechtmäßige Datenerhebung und ‑sammlung vor.
417Es handelt sich bei den Gutachten I - III um Behördengutachten, bei dessen Erstellung sich das Bundesamt auch der Hilfe eines externen Rechtsanwalts bedienen kann. Darüber hinaus würdigt das Gericht die in den Gutachten zitierten Belegstellen eigenständig, da es um eine rechtliche Beurteilung und Einordnung geht. Bei der gesetzlichen Voraussetzung für einen Eingriff, mithin das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für einen Verdacht, handelt es sich ebenso wie bei einer Polizeigefahr um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der für einen Beurteilungsspielraum der anordnenden Behörde keinen Raum lässt, sondern in vollem Umfang verwaltungsgerichtlicher Nachprüfung unterliegt,
418BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1990 - 1 C 12.88 ‑, BVerwGE 87, 23 = juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 27. Oktober 1982 - 20 A 348/81 ‑, DVBl. 1983, 1017 ff.; VG Berlin, Urteil vom 25. September 2012 - VG 1 K 225.11 -, juris Rn. 43.
419Das Gericht hat die vom Bundesamt aufgeführten Anhaltspunkte also eigenständig zu beurteilen, sodass die in den Gutachten genannten Schlussfolgerungen für das Gericht ohnehin nicht bindend sind.
420Die tatsächlichen Anhaltspunkte entfallen auch nicht durch ein Tätigwerden oder Einschreiten des Flügels oder der Klägerin.
421Insbesondere entfallen die Anhaltspunkte nicht durch die von der Klägerin durchgeführten Parteiordnungsverfahren und Parteiausschlüsse von (ehemaligen) Flügel-Mitgliedern. Denn es geht hier allein um die Beurteilung des Flügels als Teilorganisation. Ein Ausschluss auf Betreiben des Flügels oder eine Distanzierung von Seiten des Flügels wurde aber nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat insbesondere Björn Höcke immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass er das Einschreiten der Klägerin nicht unterstützt und es im Gegenteil stark kritisiert. So bezeichnete er die Sorge der Klägerin vor einer möglichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz als „politische Bettnässerei“ (Gutachten I Bl. 37).
422Davon abgesehen liegen die von der Klägerin aufgelisteten Parteiausschlüsse (Bl. 1179 ff. GA) (nahezu vollständig) nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt des 15. Januar 2019, sodass sie hier auch aus diesem Grund nicht in die Beurteilung einfließen.
423Des Weiteren begegnet die Entscheidung des Bundesamtes für eine entsprechende Einstufung und Beobachtung des Flügels auch auf der Rechtsfolgenseite keinen Bedenken. Es kann dahinstehen, ob - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - die Verfassungsschutzbehörden zur Beobachtung entsprechender Bestrebungen und Tätigkeiten nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sind, und ihnen daher kein Entschließungsermessen zusteht,
424so Roth, a.a.O., BVerfSchG § 4 Rn. 131 m.w.N.; Warg, a.a.O., S. 543; a. A. VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03 ‑, juris Rn. 188.
425Denn Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Die Maßnahmen sind insbesondere verhältnismäßig. Zwar bedeuten sie einen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen der Klägerin. Bei einer Beobachtung handelt es sich - auch wenn sie wie hier bislang - allein aus offenen, allgemein zugänglichen Quellen wie Druckerzeugnissen, Programmen und Äußerungen in sozialen Medien erfolgt - um einen sich mit der Dauer der Maßnahme verstärkenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Sie kann, wenn sie - wie hier - bekannt wird, zu seiner Stigmatisierung in der Öffentlichkeit führen. Darüber hinaus steht hier auch eine zumindest mittelbare Beeinträchtigung des Grundrechts der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und weiter des Rechts auf Chancengleichheit im Wettbewerb von politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) im Raum,
426vgl. nur VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 ‑, BeckRS 2017, 119732 Rn. 25 (Identitäre Bewegung).
427Die Beobachtung des Flügels durch das Bundesamt ist geeignet, den auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Verdacht der verfassungsfeindlichen Bestrebungen weiter abzuklären. Die Beobachtung im Wege der Auswertung offener Quellen ist auch erforderlich, da sie das mildeste Mittel im Rahmen der Beobachtung darstellt. Die Beobachtung in dem bislang praktizierten Umfang steht auch nicht erkennbar außer Verhältnis zum beabsichtigten Erfolg.
428Auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) wirkt sich die Informationsbeschaffung aus offenen Quellen nur relativ geringfügig aus, da diese keine Informationen enthalten, die dem persönlichen Lebensbereich der jeweils Betroffenen zuzuordnen wären, sondern ausschließlich dessen Wirken in der Öffentlichkeit betreffen und häufig von diesem selbst oder mit dessen Einverständnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Im Verhältnis zum Schutzzweck der Beobachtung erscheint der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung daher nicht unangemessen oder unzumutbar,
429vgl. VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861 ‑, BeckRS 2017, 119732 Rn. 47; BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 ‑ 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 102 ff.
430Gleiches gilt hinsichtlich etwaiger faktischer Auswirkungen der Beobachtung auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) der Klägerin. Hinsichtlich des Rechts auf Gleichbehandlung von Parteien (Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) ist schließlich festzustellen, dass durch die Beobachtung als solche weder die Werbung für Parteiziele unmittelbar berührt oder gar untersagt wird, noch sind - anders als im Fall der Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Beobachtung - Auswirkungen auf das Wählerverhalten zu befürchten.
431vgl. erneut VG München, Beschluss vom 27. Juli 2017 - M 22 E 17.1861, BeckRS 2017, 119732 Rn. 47.
432Der Eingriff ist jedenfalls durch den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt. Das Grundgesetz hat sich für eine streitbare Demokratie entschieden. Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder gar zerstören dürfen (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 GG),
433vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013 - 2 BvR 2436/10, 2 BvE 6/08 -, BVerfGE 134, 141 Rn. 112; Urteil vom 17. August 1956 - 1 BvB 2/51 -, BVerfGE 5, 85 = juris, Rn. 496; OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 5 B 163/21 -, juris Rn. 22.
434Der Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung wiegt dabei schwerer als der Eingriff in die Rechte des Flügels oder der Klägerin, zumal der Flügel mit seinen zahlreichen Äußerungen und politischen Positionierungen den Anlass für die Verdachtseinstufung und Beobachtung gesetzt hat.
435Die Einstufung zum Verdachtsfall ist auch unter dem Gesichtspunkt verhältnismäßig, dass es im Anschluss grundsätzlich zum Einsatz verdeckter nachrichtendienstlicher Mittel kommen kann. Ein Automatismus, dass mit der Einstufung zum Verdachtsfall unmittelbar der Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln verbunden ist, existiert nicht. Dieser Einsatz ist eine Frage des Einzelfalls und unterliegt besonderen zusätzlichen gesetzlichen Voraussetzungen (§ 8 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 8a ff. BVerfSchG) und zusätzlichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen (§ 8 Abs. 2 Satz 3, § 9 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BVerfSchG). Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt solche Mittel bereits gegen die Klägerin und ihre Mitglieder zum Einsatz bringt, bestehen nicht. Bei dem Einsatz solcher Mittel ist eine gerichtliche Prüfung nur des jeweiligen Einzelfalles, nicht aber abstrakt generell möglich. Der Einsatz solcher Mittel ist jedenfalls nicht generell aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen.
436Schließlich kann auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt werden. Der Hinweis, Politiker anderer Parteien verträten dieselben Positionen, lässt die Rechtmäßigkeit der Beobachtung des Flügels nicht entfallen. Der von der Klägerin mehrfach wiederholte Einwand, dass es sich mit dieser oder jener Einzelheit bei dieser oder jener Partei ebenso oder ähnlich verhalte wie bei ihr, liegt deshalb neben der Sache. Nicht auf die Einzelheiten als solche kommt es an, sondern auf eine Gesamtwürdigung. Erst die Fülle der Einzelheiten - der Worte und Taten der Führenden und ihrer Anhänger - eröffnet den Weg zur Erkenntnis des Wesens der Partei und des hintergründigen Sinnes ihres Programms. Dazu sind Anhaltspunkte in quantitativ und qualitativ hinreichender Anzahl erforderlich. Einzelne Anhaltspunkte reichen für eine Beobachtung nicht aus, sofern es sich allein um einzelne Entgleisungen handelt,
437vgl. dazu oben und BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1952 - 1 BvB 1/51 -, BVerfGE 2, 1 = juris Rn. 53; OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2000 ‑ 5 A 2256/94 -, juris Rn. 45.
438Allein aus dem Vortrag der Klägerin ergeben sich solche Anhaltspunkte bei anderen genannten politischen Parteien - oder deren Teilorganisationen - in einem mit dem Flügel vergleichbaren Ausmaß aber jedenfalls nicht.
4392. Der Antrag auf Feststellung, dass die öffentliche Bekanntgabe der Einstufung etc. des Flügels als Verdachtsfall am 15. Januar 2019 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtswidrig war (Klageantrag zu 9.), ist ebenfalls unbegründet.
440Dem Feststellungsanspruch der Klägerin steht entgegen, dass die Bekanntgabe am 15. Januar 2019 rechtmäßig war.
441Ermächtigungsgrundlage ist § 16 Abs. 1 BVerfSchG. Danach informiert das Bundesamt über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 3 Abs. 1 BVerfSchG, soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen.
442§ 16 Abs. 1 BVerfSchG ermächtigt nach seiner Neufassung damit auch - entgegen der Auffassung der Klägerin - schon zur Information über „Verdachtsfälle“,
443vgl. BTDrucks. 18/4654, S. 32; VG Köln, Beschluss vom 26. Fe-bruar 2019 - 13 L 202/19 -, juris Rn. 68; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2020 - VG 1 L 95.20 -, Rn. 21; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 56.20 -, juris Rn. 18; anders noch vor der Neuregelung BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2013 - 6 C 4.12 -, juris Rn. 12 ff. zu § 16 Abs. 2 BVerfSchG a.F.
444Die Anwendung der Vorschrift ist auch nicht durch Art. 21 Abs. 4 GG gesperrt. Denn es steht hier - wie dargelegt - kein Parteienverbot und keine dem Parteienverbot vergleichbare Maßnahme im Raum, die nach dem Maßstab des Art. 21 GG zu beurteilen wäre.
445Die verbindliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei kann gemäß Art. 21 Abs. 4 GG nur das Bundesverfassungsgericht in dem nach den Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vorgesehenen Verfahren treffen (Parteienprivileg). Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts schließt damit ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten,
446vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 16.
447An dieser Bestands- und Schutzgarantie des Grundgesetzes hat auch die Klägerin vollen Anteil. Die Beobachtung durch das Bundesamt und deren Bekanntgabe ist aber keine solche Maßnahme, sondern dient der Aufklärung des Verdachts, dass die Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Die Zulässigkeit einer solchen Aufklärung wird von der Verfassung vorausgesetzt. Auch ohne die Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit darf die Überzeugung gewonnen und vertreten werden, eine Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele,
448BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 - BVerwGE 110, 126 (130 f.); BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 ‑ 6 C 22.09 -, BVerwGE 137, 275 Rn. 21.
449Das Parteienprivileg schließt nicht aus, dass eine Partei, die nicht verboten ist, in staatlichen Publikationen als verfassungsfeindlich bezeichnet oder mit anderen negativen Werturteilen versehen wird. Gegen hieraus entstehende faktische Nachteile ist die Partei nicht per se durch Art. 21 Abs. 1 GG geschützt,
450vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 19.
451Das gilt gleichermaßen für die Information der Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten bei Vorliegen hinreichend gewichtiger Anhaltspunkte,
452vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Juni 2020 - OVG 1 S 55.20 -, juris Rn. 19.
453Dies gilt auch in Ansehung der Argumentation der Klägerin, die mediale Breitenwirkung der Bekanntgabe einer solchen Einstufung durch das Bundesamt in einer hoch öffentlichkeitswirksamen Pressekonferenz verlange eine Erhöhung der Anforderungen an das Tätigwerden des Verfassungsschutzes. Denn die medienwirksame Bekanntgabe einer solchen Einstufung korrespondiert nur mit der ebenfalls durch die technische Entwicklung erheblich erhöhten Breitenwirkung von Anknüpfungspunkten für eine solche Einstufung: Äußerungen, die früher nur in einem „Hinterzimmer“ einem kleinen Kreis von Beteiligten bekannt geworden sind, erlangen heute durch die Verbreitungsmöglichkeiten via Internet einen erheblichen größeren Adressatenkreis. Dem kann und muss der Verfassungsschutz mit einer ebenso medienwirksamen Veröffentlichung einer entsprechenden Einstufung begegnen. Denn die Beobachtung einer politischen Partei auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen hin zielt nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen wie ein Parteienverbot vorzubereiten. Sie bezweckt vielmehr auch und in Anbetracht der langjährigen Staatspraxis sogar vornehmlich, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken,
454vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 ‑ 1 C 30.97 ‑, BVerwGE 110, 126 - Leitsatz 1 sowie juris Rn. 19 und 27.
455Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage sind erfüllt. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG vor. Diese sind auch hinreichend gewichtig, siehe oben.
456Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist schließlich verhältnismäßig. Zwar greift sie in die Rechte der Klägerin ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
457Die Berichterstattung auf der Grundlage des § 16 Abs. 1 BVerfSchG dient einem legitimen Zweck, nämlich dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie zielt damit auf die Wahrung eines Rechtsguts von Verfassungsrang und ist eine grundsätzlich geeignete Vorkehrung zur Aufklärung der Öffentlichkeit und in diesem Rahmen zur Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen,
458vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 1 BvR 1072/01 -, BVerfGE 113, 63 = juris Rn. 70 ff.
459Die Beobachtung einer politischen Partei auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen hin zielt ebenso wie die anderer Vereinigungen oder einzelner nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen vorzubereiten. Sie bezweckt vielmehr auch und in Anbetracht der langjährigen Staatspraxis sogar vornehmlich, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken,
460BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 = juris Rn. 27.
461Diesem Zweck entsprechend geht es vorliegend um die Bekanntgabe, dass der Flügel als Verdachtsfall eingestuft wird, da es - was nach den obigen Ausführungen bestätigt werden kann - hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gibt. Sie dient der Aufklärung der Öffentlichkeit zur zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen.
462Die Bekanntgabe ist auch erforderlich. Die Beklagte hat insbesondere nicht den Eindruck erweckt, es stehe fest, dass der Flügel gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt. Sie hat stets kenntlich gemacht hat, dass es sich (lediglich) um einen Verdachtsfall handelt. Die Erklärungen als solche sind auch von Sachlichkeit getragen. Die Bekanntgabe ist in ihrer Art und Weise schließlich verhältnismäßig im engeren Sinne. Bei dem mit der Berichterstattung verfolgten Ziel des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, also den fundamentalen Strukturprinzipien der staatlichen Gesamtordnung, handelt es sich um ein Schutzgut von überragendem Verfassungsrang. Zu diesem steht der vorgenommene Eingriff in die Rechte der Klägerin erkennbar nicht außer Verhältnis. Der Flügel war jedenfalls am 15. Januar 2019 eine (wenn auch nicht satzungsmäßige) Teilorganisation der Klägerin, die im Bundestag und allen Landesparlamenten vertreten ist und zum Teil beträchtliche Stimmenergebnisse erzielt hat. Es besteht daher ein ganz erhebliches öffentliches Interesse, wenn bei einer Teilorganisation der Klägerin tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung festzustellen sind.
463Der Bekanntgabe steht auch - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht das Neutralitätsgebot der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung entgegen. Das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit als ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung verbietet zwar jede staatliche Maßnahme, die den Anspruch der Partei auf die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigt. Danach wäre es der Regierung untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn diese Maßnahme bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich daher der Schluss aufdrängte, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhte. Das ist hier indessen nicht der Fall. Vielmehr erschöpfen sich die vom Bundesamt abgegebenen Werturteile - auch soweit sie zum Zwecke, die Öffentlichkeit zu informieren, allgemein zugänglich gemacht worden sind - in sachlich gehaltenen und zwischen der Klägerin und ihren Teilorganisationen differenzierenden Meinungsäußerungen. Als solche sind sie verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie müssen von der Klägerin, die auch ihrerseits in der Abgabe von Werturteilen nicht gerade zurückhaltend ist, als Teil der ständigen geistigen Auseinandersetzung, die für die freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend ist, hingenommen werden,
464vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 - 2 BvE 1/75 -, BVerfGE 40, 287 = juris Rn. 20.
4653. Der Klageantrag zu 1. ist ebenso unbegründet. Die Klägerin hat keinen Feststellungsanspruch, dass die Einordnung, Prüfung und Beobachtung des Flügels als Verdachtsfall im Zeitraum vom 16. Januar 2019 bis zum 11. März 2020 rechtswidrig war. Denn sie war auch in diesem Zeitraum rechtmäßig.
466Ermächtigungsgrundlage für die Einordnung, Prüfung und Beobachtung der Klägerin durch das Bundesamt ist auch hier § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 3 (a.F.), § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG.
467Der Flügel war jedenfalls in dem streitgegenständlichen Zeitraum - 16. Januar 2019 bis zum 11. März 2020 - ein taugliches Beobachtungsobjekt. Es gilt weiterhin das oben Gesagte.
468Darüber hinaus kann sogar verzeichnet werden, dass sich der Flügel als Zusammenschluss im streitgegenständlichen Zeitraum noch verfestigt hat. Das folgt schon aus den Verlautbarungen des Flügels und seiner Protagonisten.
469Björn Höcke äußerte am 23. Januar 2019:
470„Der Flügel, wir, sind lebendig und präsent wie seit vielen Jahren nicht mehr in der Partei.“ (Gutachten II Bl. 8)
471In einem Facebook-Beitrag des Flügels vom 19. März 2019 wurde Stellung zum Charakter des Flügels bezogen. Dabei wurde herausgestellt:
472„Die AfD wird mit Flügel sein oder gar nicht sein!“ (Gutachten II Bl. 9)
473Auch wird dort eingeräumt, dass sich der Flügel organisiert, um innerparteilich Richtungsentscheidungen zu beeinflussen:
474„Wir lernen daraus, daß der Flügel eine lose Interessengemeinschaft innerhalb der AfD ist, also ohne feste Organisation und damit alles andere als eine Partei in der Partei, wie manch Parteifreund dem Flügel gerne vorwirft und damit dem politisch-medialen Establishment willfährig nach dem Mund redet. ‚Aber der Flügel hat doch Obmänner!‘, wird der Einwurf sofort lauten. - Ja, das hat er, weil sich auch eine lose Interessengemeinschaft wenigstens ein Minimum organisieren muß.[...]
475In diesem turbulenten Zeiten war es die maßgeblich von Björn Höcke initiierte ‚Erfurter Resolution‘ als Gründungsdokument des Flügels, die es erstmals in der Parteigeschichte der AfD verstand, die Mitglieder länderübergreifend im Hinblick auf die Gründungsideale zu organisieren und die erst die Wahl von Frauke Petry und Jörg Meuthen auf dem Parteitag von Essen ermöglichte. Ohne den Flügel hätte es diese notwendige Richtungsentscheidung nie gegeben und die AfD stünde nicht da, wo sie heute steht.“ (Gutachten II Bl. 9)
476Verstärkt wird dieses Bild auch durch die Benennung von Obleuten in den Landesverbänden der Klägerin. Dies folgt aus den Äußerungen einiger Obleute (Gutachten II Bl. 11) und wurde auch von der Klägerin nicht bestritten. Deutlich wird, dass der Flügel ab dem Jahr 2019 auch über regionale Verbände und Strukturen verfügt hat. Für eine Verfestigung spricht schließlich auch die Verleihung von Abzeichen innerhalb des Flügels. So wurden im Jahr 2019 das „silberne Flügelabzeichen“ an vier Personen verliehen, um besonderen persönlichen Einsatz für die Anliegen des Flügels zu würdigen (Gutachten II Bl. 12 f. mit Nachweisen).
477Es kann auch hier dahinstehen, ob die formale Auflösung relevant ist. Denn die Auflösung wurde zum 30. April 2020 und daher erst nach dem streitgegenständlichen Zeitraum vollzogen.
478Auch in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum zeigten sich hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.
479Das folgt zum einen daraus, dass auch nach dem 15. Januar 2019 keine Distanzierung oder ein Abrücken der zur Einstufung führenden Positionen und Äußerungen seitens des Flügels erfolgt ist. Im Gegenteil wurden die Positionen verfestigt und wurden Äußerungen und problematische Begriffe wiederholt - insbesondere auch solche Äußerungen, die selbst das von der Klägerin eingeholte Gutachten von Prof. Murswiek als Anhaltspunkte im Sinne der §§ 3 und 4 BVerfSchG einstuft und diesbezüglich zur Vermeidung rät,
480vgl. Murswiek, Rechtliche Voraussetzungen für die Beobachtung einer politischen Partei durch den Verfassungsschutz. Kurzgutachten und Handlungsempfehlungen für die AfD, abrufbar unter https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2019/01/2018-10-22_vs-kurzgutachten_prof-murswiek_voraussetzungen-allgemein.pdf, S. 41 [abgerufen am 7. März 2022].
481Es findet sich erneut die Verwendung der oben genannten Reizwörter. Auch das völkische Verständnis kommt in zahlreichen Äußerungen zum Ausdruck.
482Björn Höcke warf in einer Rede am 4. Mai 2019 der EU vor, Europa von den „einheimischen Völkern“ zu „räumen“:
483„... weil diese EU-Apparatschiks und ihre willigen Vollstrecker in den deutschen Altparteien Europa nur noch als ein wirtschaftstechnokratisches Siedlungs- und Ausbeutungsgebiet für alle Menschen dieser Welt träumen. Geräumt von den lästigen Autochthonen, also einheimischen Völkern und ihren nationalen Kulturen, also von uns, den schon länger hier lebenden, liebe Freunde [...]“ (Belegsammlung II Bl. 1947, 1957)
484In Bezug auf den Begriff der „Umvolkung“ sagte er in einem Interview mit Jürgen Elsässer im Compact-Magazin im Juni 2019:
485„Elsässer: Die Nichtwähler sind angefressen von Floskeln des etablierten Politikbetriebs und schätzen klare Kante. Sie würden sich freuen, wenn Björn Höcke von ‚Umvolkung‘ spricht. Immerhin hat sogar Maximilian Krah, Platz 3 auf der EU-Liste der AfD und kein Anhänger des Flügels, im COMPACT-Interview gesagt, dass er zu diesem provokanten Begriff steht.
486Höcke: Mir fällt für die offenkundig systematisch betriebene Zerstörung der gewachsenen Völker auch kein treffenderer Begriff ein. [...] Spätestens mit dem Rauswurf von Hans-Georg Maaßen ist auch diese Institution zum reinen Exekutivorgan für den völkerauflösenden und als pervers zu bezeichnenden Geist eines George Soros geworden.“ (Belegsammlung II Bl. 1606)
487In seiner Rede am 1. Mai 2019 in Erfurt und am 9. August 2019 in Grimma verwendete er die Begriffe der gesteuerten „Auflösung“ und „Abwicklung“ Deutschlands (Belegsammlung II Bl. 3569; 1814, 1823).
488In einer Wahlkampfrede am 3. Oktober 2019 in Mödlareuth sagte er:
489„Und wir sehen uns zusätzlich, liebe Freunde, mit einer politischen Elite konfrontiert, die das Volk trotz aller Sonntagsreden als Störfaktor betrachtet. Einer politischen Elite, die es zudem nicht gut mit Deutschland und dem deutschen Volk meint. [...] Sie gefährden unsere in Jahrhunderten gewachsene Vertrauensgemeinschaft, die die Grundlage einer funktionierenden Demokratie ist. Ja, sie gefährden abschließend auch unsere Identität. [...] Die Kartellparteien, das medial-politische Establishment dieses Landes, sie lösen unser Deutschland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl.“ (Belegsammlung II Bl. 1857, 1860 f.)
490In diesen Worten kommt klar zum Ausdruck, dass Höcke mit dem deutschen Volk nicht auch Zuwanderer meinen kann. Die Zuwanderung bedeutet nach seinem Verständnis vielmehr eine Gefahr und die „Auflösung“ des deutschen Volkes.
491Migranten gehören nach diesem Verständnis offenbar nicht zu dieser „gewachsenen Vertrauensgemeinschaft“, sondern stellen für sie eine Gefahr dar. Vertrauen kann nach seinem Verständnis nämlich nur zwischen „Gleichgearteten“ entstehen (Belegsammlung II Bl. 4480, 4504, 6. Juli 2019).
492Von der „Auflösung“ des Volkes sprach er auch im August 2019:
493„Aber die Kartellparteienpolitiker auf den hohen Funktionärsebenen - und jetzt pauschaliere ich ein wenig, das ist ja noch nicht verboten - die sind in meinen Augen Teil einer geschlossenen transatlantischen Elite, die die Zielsetzung der Globalisierung der Welt vorantreiben. Die wollen unser Deutschland, die wollen unsere Nation und die wollen unser Volk auflösen, weil sie den Traum von der One World träumen. Wir träumen diesen Traum nicht, weil dieser Traum, wenn er umgesetzt wird, ins Chaos führt, weil er zur Kulturvernichtung führt und weil er in eine autoritäre Welt führt, die wir so nicht haben wollen. Wir wollen Demokratie und wir wollen Bürgerfreiheit und dafür sind wir angetreten.“ (Gutachten II Bl. 68)
494Von einem unüberbrückbaren Unterschied zwischen Afrikanern und Europäern sprach Höcke am 18. September 2019:
495„Egal, ob Kenia-Koalition oder Simbabwe-Koalition, für die betroffenen Bundesländer bedeutet das so oder so, dass sie tatsächlich noch afrikanischer werden, denn diese Koalitionen, sie stehen für weitere, unbegrenzte Einwanderung fremder Bevölkerungen in unser Land, und das ist es, was wir neben der drohenden Orientalisierung nicht wollen, die Afrikanisierung unseres europäischen Kontinents, unseres deutschen Vaterlandes und unserer Heimat Thüringen. Niemand, und ich betone: niemand hat einen Nutzen davon, am Ende werden alle zu Verlierern werden, Afrikaner und Europäer. [...] Afrika muss Afrika bleiben und Europa muss Europa bleiben.“ (Belegsammlung II Bl. 4608, 4619)
496Hier wird auch die Rückkopplung der Kultur an die Ethnie sichtbar, die zum ethnisch-kulturellen Verständnis des Flügels zählt. Kultur ist damit untrennbar mit der Ethnie verbunden.
497Er warnte in einer Rede vom 30. August 2019 vor der „Afrikanisierung Europas“ und dem Aussterben der autochthonen Bevölkerung:
498„Die Bevölkerung wird dort in den nächsten Jahren von 1,1 Mrd. auf 1,4 Mrd. Menschen wachsen in den nächsten zehn Jahren. Und [...] vernunftbegabte Politiker würden in Kenntnis dieser weltdemographischen Lage etwas anderes artikulieren. Sie würden klare Botschaften artikulieren. Vor allen Dingen an junge Männer, die aus Afrika über das Mittelmeer und auf anderen Wegen nach Europa, nach Deutschland und nach Brandenburg drängen. Und diese klare Botschaft von vernunftbegabten Politikern, die müsste eigentlich lauten: Liebe afrikanische junge Männer, wir unterstützen euch, und darauf könnt ihr euch verlassen, in eurer Heimat. Aber wir können euch hier nicht gebrauchen. Die Afrikanisierung Europas, die nützt auch Afrika nichts. Und deswegen werdet ihr keine Heimat in Europa, Deutschland und Brandenburg haben können. No way!“ (Belegsammlung II Bl. 3928, 3940 f.)
499Höcke macht damit klar, dass afrikanische junge Männer kategorisch „keine Heimat“ in Deutschland haben können, weil man sie nicht „gebrauchen“ könne. Darin kommt eine Abwertung afrikanischer Männer zum Ausdruck.
500Kalbitz differenziert zwischen den Begriffen der „Bevölkerung“ und dem „deutschen Volk“. Zum deutschen Volk gehören demnach nach seiner Auffassung offensichtlich nicht diejenigen Staatsbürger, die einen Migrationshintergrund aufweisen.
501„Wir kämpfen um die Zukunft unserer Heimat. Es geht um Tradition. Es geht um Heimat. Es geht um Identität. Heimat ist nicht verhandelbar. [...] Ich bin nicht kompromissbereit hinsichtlich unserer Identität, unserer Kultur, unserer Heimat, weil das ist das, was uns als Deutsche ausmacht. Und ich rede nicht von denen, die schon länger hier waren, ich rede nicht von der Bevölkerung, sondern ich Rede vom deutschen Volk. Das deutsche Volk, das sind wir. Und dieses Volk ist nicht verhandelbar. Und wir wehren uns gegen den Versuch der Verwässerung, das als beliebig zu erklären. [...] Ab und zu wird mir vorgeworfen, ich wäre ein Vertreter der Abteilung Attacke. Das stimmt. Ja, das stimmt, weil wir haben keine Zeit mehr, um Zurückhaltung zu wahren, sonst werden wir dieses Land, so wie wir es kennen, verlieren!“ (Belegsammlung II Bl. 1792, 1793 ff., 6. Juni 2019)
502Kalbitz will eine „Verwässerung“ vermeiden und sieht im Falle der Zuwanderung das Land in Gefahr.
503In einer Rede am 30. Juni 2019 wiederholte und präzisierte er seine Auffassung, dass er deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund nicht als vollwertige Mitglieder des deutschen Volkes sieht, und trennt erneut zwischen den Begriffen der Bevölkerung und dem Volk:
504„Und ich rede bewusst in dem Kontext von Bevölkerung und nicht vom Volk. Die Zahl der Migranten im Land nimmt gegenüber der angestammten deutschen Bevölkerung nicht nur durch zugewanderte, sondern auch durch Geburten drastisch zu. Von den rund 782.000 Kindern haben etwa 607.000 der Neugeborenen deutsche Mütter, das ist ein kleines Plus von 3 Prozent. Was heißt das aber? Zu beachten ist, hier fallen - das muss man auch dazu sagen - da fallen ja auch statistisch alle darunter, die eine deutsche Staatsangehörigkeit haben, ja, also auch Eingebürgerte mit Migrationshintergrund.“ (Belegsammlung II Bl. 1780, 1786)
505Thorsten Weiß griff in einer Rede am 1. Mai 2019 den „Umvolkungs“-Vorwurf auf,
506„Das Ziel des linken Gesinnungsblocks ist es eindeutig: [...] Die wollen die Umvolkung [...] Liebe Freunde, ich glaube ihr seid mit mir einig, wenn ich sage, dass ist keine Zukunft von Europa, sondern dass es das Eingeständnis vollständiger geistiger und kultureller Degeneration.“ (Belegsammlung II Bl. 2300, 2302)
507und am 18. Oktober 2019 sprach er vom „Großen Austausch“ (Belegsammlung II Bl. 2313).
508Der damalige Obmann des Flügels in Schleswig-Holstein, Joachim Schneider, verwendete ebenfalls den „Umvolkungs“-Vorwurf:
509„Manchmal hilft es in andere Länder zu schauen, die bei der Umvolkung schon viel weiter sind als Deutschland, um zu erahnen, was auf uns zukommt.“ (Gutachten II Bl. 87, 25. Juli 2019)
510Dasselbe gilt für die bereits oben festgestellte ausländerfeindliche Agitation. Auch diese wurde nach dem 15. Januar 2019 (nahtlos) fortgesetzt. Es sind insbesondere pauschalisierende Verunglimpfungen festzustellen, die nach dem oben Gesagten Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen darstellen:
511Höcke bezeichnete Migranten erneut mehrfach als „Invasoren“ (Belegsammlung II Bl. 1412, 1490; Bl. 3569; Bl. 1412, 1490). Dies tat auch Andreas Kalbitz (Belegsammlung II Bl. 2300, 2304).
512Kalbitz verunglimpfte Migranten im Rahmen einer Wahlkampfrede am 30. August 2019:
513„Die BKA-Statistik, die Statistik des Bundeskriminalamtes, hat uns ganz klar gezeigt wie sich diese „Einzelfälle“ summieren. Wie bei Sexual- und Gewaltstraftaten der Anteil von kriminellen Handlungen von sogenannten „Flüchtlingen“ gegen Deutsche um 20 % gestiegen ist. Nach diesem Bericht des Bundeskriminalamtes wurden 230 Deutsche von sogenannten „Flüchtlingen“ getötet. Und jeder Einzelne davon ist Merkels Toter. [...] Und wir werden es nicht hinnehmen, dass Teile der Flüchtlinge - nicht alle - aber dass Teile junger muslimischer Männer unsere jungen Frauen und Mädchen für billig verfügbare Schlampen halten, unsere jungen Männer für Aggressionsmülleimer und die Sozialhilfe, die sie bekommen, als Starthilfe für ihre Gangsterkarrieren.“ (Belegsammlung II Bl. 2574, 2578)
514Zwar macht Kalbitz dort die Einschränkung, dass er nicht alle Flüchtlinge meint. Er spricht aber nur von „sogenannten Flüchtlingen“ und stellt damit in Frage, dass es sich überhaupt um Flüchtlinge handelt. Auch wird suggeriert, dass ein wesentlicher Teil männlicher Flüchtlinge Sexual- und Gewaltstraftaten begeht.
515Ulbrich stellt mit der Wortschöpfung „Migrantenmesser“ einen pauschalisierenden Zusammenhang zwischen Migranten und gewalttätige Angriffen her:
516„Es kann nicht angehen, dass ein Beamter erst dann zur Waffe greifen darf, wenn er das Migrantenmesser bereits am Hals hat. Jeder Polizist setzt Tag und Nacht seine Gesundheit und sein Leben aufs Spiel, um uns, die Bürger zu schützen. Ich möchte in diesem Land keinen einzigen verletzten oder gar toten Polizisten mehr beklagen müssen, nur weil sie gegen ein institutionelles Gutmenschentum angehalten werden, auf Deeskalation statt auf Gegenwehr zu setzen.“ (Belegsammlung II Bl. 4993, 4994, 18. Februar 2019)
517Auch erweckt er mit seiner Äußerung den Eindruck, als gingen Angriffe auf Polizisten allein von Migranten aus. Jedenfalls sieht er allein bei Angriffen von Migranten den Bedarf, eine härtere Gangart einzuschlagen.
518Weiß forderte in seiner Rede am 1. Mai 2019 die Errichtung eines Bollwerks gegen die „Messerinvasion aus Afrika und im [wohl dem] Nahen Osten“ (Belegsammlung II Bl. 2300, 2304). Auch damit werden Migranten aus diesen Gebieten pauschal als kriminell - und dazu als Invasoren - verunglimpft.
519Auch weitere islamfeindliche Zitate sind zu verzeichnen. Höcke äußerte am 4. Mai 2019:
520„...dass ich der festen Überzeugung bin, dass der Islam nicht rechtsstaatskompatibel ist.“ (Belegsammlung II Bl. 1947, 1954)
521Auch Tillschneider wiederholte in einem Beitrag vom 18. April 2019 die vom Flügel geäußerte Behauptung, dass „ein konsequent gelebter Islam“ nicht grundgesetzkonform sein könne, und setzt Islam und Islamismus gleich:
522„Allerdings reproduziert leider auch der aktuelle Verfassungsschutzbericht die Falschdifferenzierung in einen angeblich harmlosen Islam und einen gefährlichen Islamismus. [...] Fakt ist: Es gibt eine solche Unterscheidung innerislamisch nicht. Es gibt nur den einen Islam, der entweder konsequent und dann nicht grundgesetzkonform, oder grundgesetzkonform und dann nicht konsequent gelebt werden kann. Das Landesamt für Verfassungsschutz sollte diese Differenzierung aufgeben und seinen Beobachtungsradius über die 300 ‚Islamisten‘ hinaus ausweiten. Überall, wo besonderer Wert auf orthodoxe Lebensweisen gelegt wird, ist Vorsicht geboten, denn nicht die AfD ist ein Prüffall für den Verfassungsschutz, sondern jede Moscheegemeinde im Land.“ (Belegsammlung II Bl. 2995)
523Die Forderung, jede Moscheegemeinde im Land - offenbar unabhängig vom Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte - als Fall für den Verfassungsschutz einzuordnen und zu beobachten, verstößt ersichtlich gegen die Grundrechte der betroffenen Gemeinden.
524Eine generelle verfassungsschutzbehördliche Überwachung aller Moscheen forderte auch Jörg Urban in einem Facebook-Eintrag vom 2. März 2019:
525„Neben diesem offensichtlichen Extremismus müssen wir beim Islam jedoch generell genauer hinschauen. Die Mehrheit der Muslime, selbst in westlichen Ländern, will Homosexualität unter Strafe stellen. Zudem sind sie der Ansicht, Frauen müssten Männern gehorchen. Ein solch archaisches Weltbild ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Der Verfassungsschutz gehört deshalb in jede Moschee! Wir würden damit vermitteln, daß jeder, der die strengen Regeln des Islams befolgen will, dies gerne tun kann, aber nicht in unserem freiheitlichen Land.“ (Gutachten II Bl. 136)
526Thorsten Weiß kommentierte am 7. März 2019 die Interviewäußerung des CDU-Fraktionsvorsitzenden Brinkhaus, er könne sich 2030 einen Muslim als CDU-Bundeskanzler vorstellen damit, dass dies eine „irrsinnige Aussage“ sei und die Klägerin ein „vom Islam regiertes Deutschland“ werde zu verhindern wissen (Belegsammlung II Bl. 3006). Damit wird einem Muslim generell die Fähigkeit abgesprochen, Kanzlerkandidat werden zu können.
527Auch finden sich weitere Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen hinsichtlich des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips. Insbesondere Höcke verwendete weiterhin mehrfach die bereits oben genannten Begriffe der „System-„ bzw. „Kartellpartei“ (Belegsammlung II Bl. 1814, 1816; 1857, 1860 f.; 3928, 3930; 4771, 4794)
528Zusammenfassend lässt sich auch für diesen streitgegenständlichen Zeitraum (in Verbindung mit den oben genannten Belegen) im Wege der Gesamtschau feststellen, dass sich im maßgeblichen Zeitpunkt Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen aus den Verlautbarungen des Flügels und der Erstunterzeichner der Erfurter Resolution und damit der führenden Repräsentanten des Flügels entnehmen lassen. Es handelt sich bei den genannten Zitaten um Äußerungen von führenden Repräsentanten. Diese Äußerungen sind daher von hinreichendem Gewicht und liegen in ausreichender Zahl vor.
529Die Aussagen von Kalbitz können dem Flügel weiterhin zugerechnet werden. Es kann dahinstehen, ob nach seinem Ausscheiden aus der Klägerin etwas anderes gilt, da er erst mit Beschluss des Vorstandes der Klägerin vom 15. Mai 2020 - und daher nach dem streitgegenständlichen Zeitraum - aus dem Flügel/der Klägerin ausgeschieden ist.
530Dafür, dass es sich nicht nur um bloße Äußerung von Kritik handelt, sondern eine (einschneidende) Veränderung der Politik angestrebt wird, zeugt neben den oben genannten Umständen ein Redebeitrag von Dr. Christina Baum auf einem Treffen des Flügels im Mai 2019:
531„Bedenkt bitte, es geht nicht nur um ein paar kleine Korrekturen. Nein, es geht um alles. Deutschland muss deutsch bleiben! Nehmen wir diesen heldenhaften Kampf auf, es lohnt sich. Deutschland ist das wunderbarste Land der Welt und wir alle haben nur diese eine Heimat. Holen wir uns unser Land zurück!“ (Belegsammlung II Bl. 2275, 2279)
532Auch in diesem Zeitraum entfallen die Anhaltspunkte nicht durch Distanzierungen oder Maßnahmen, die der Flügel ergriffen hätte.
533Insbesondere entfallen die Anhaltspunkte nicht durch die von der Klägerin durchgeführten Parteiordnungsverfahren und Parteiausschlüsse von (ehemaligen) Flügel-Mitgliedern. Denn es geht hier allein um die Beurteilung des Flügels als Teilorganisation. Ein Ausschluss auf Betreiben des Flügels oder eine Distanzierung von Seiten des Flügels wurde aber nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat insbesondere Björn Höcke immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass er das Einschreiten der Klägerin nicht unterstützt und es im Gegenteil stark kritisiert. So bezeichnete er die Sorge der Klägerin vor einer möglichen Beobachtung durch den Verfassungsschutz als „politische Bettnässerei“ (Gutachten I Bl. 37), siehe oben.
534Das Ausscheiden von Andreas Kalbitz aus der Klägerin ist auch deshalb hier nicht relevant, da es erst mit Beschluss des Vorstands der Klägerin am 15. Mai 2020 und daher nach dem streitgegenständlichen Zeitraum erfolgt ist.
535Die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin vom 18. Januar 2021, die auch von Björn Höcke unterzeichnet worden ist, ändert an der Beurteilung des Flügels nichts. Denn der streitgegenständliche Zeitraum endet vorliegend am 11. März 2020.
536Es ergibt sich auch keine abweichende Beurteilung durch die im Verfahren vorgetragenen „Klarstellungen“ der Repräsentanten des Flügels. Dies kann schon dahinstehen, da die Klarstellungen nur einen Teil der oben genannten Zitate und auch nur einen Teil der zitierten Akteure betreffen. Dies lässt eher den Umkehrschluss zu, dass die anderen Zitate vom Bundesamt zutreffend als Anhaltspunkte gewertet worden sind.
537Darüber hinaus sind die Erklärungen aber auch inhaltlich nicht geeignet, die oben festgehaltenen Schlüsse in Frage zu stellen. Es handelt sich vielmehr um Lippenbekenntnisse, die aus prozesstaktischen Erwägungen abgegeben worden sind, um den Erklärungen eine Mehrdeutigkeit beizumessen, die aber nicht existiert.
538Zudem wurden die oben genannten Begriffe nach der Einstufung des Flügels als Verdachtsfall von Repräsentanten des Flügels weiterhin benutzt. Auch wurden verfassungsfeindliche Äußerungen wiederholt.
539Nach der Einstufung des Flügels als Verdachtsfall erfolgte innerhalb des Flügels nicht etwa eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Äußerungen. Vielmehr versuchte Björn Höcke, Druck auf diejenigen auszuüben, die Kritik am Kurs und den Äußerungen des Flügels äußern. Er verwendete dabei aggressive Rhetorik und bezeichnete sie unter anderem als „Feindzeugen“, die die „Todsünde“ begingen.
540„Zeigen wir auch den unseligen Feindzeugen unserer Partei die Rote Karte. [...] Das sind Parteimitglieder, die entweder schon im Entstehen der Partei als Trojaner installiert [wurden] oder, weil sie nach einigen Brosamen medialer Aufmerksamkeit dürsten, die eigenen Leute attackieren und als Stichwortgeber für den Verfassungsschutz auftreten.“ (Gutachten II Bl. 43, 23. Januar 2019)
541„Und dennoch wittern manche Teile in der AfD die große Chance auf eine ‚Bereinigung‘ von ungeliebten, patriotischen Kräften und begehen die Todsünde des ‚Feindzeugen‘: Sie belasten eigene Parteikollegen und -gruppierungen mit zumeist völlig unhaltbaren ‚Extremismus‘-Vorwürfen. Das ist in jedem Fall grob fahrlässig, wenn nicht sogar Vorsatz. Hier muss dringend Einhalt geboten werden und sich die Einsicht durchsetzen: solange Angriffe von außen für innerparteiliche Machtkämpfe instrumentalisiert werden, arbeitet man dem politischen Gegner und den VS-Behörden in die Hände und der zersetzende Spaltpilz kann sich in der Partei ungehindert ausbreiten.“ (Gutachten II Bl. 44, Februar 2019)
542Auch daran zeigt sich, dass der Flügel von seinen Positionen nicht Abstand genommen hat, sondern allein die Kritik und die Bewertung durch die Verfassungsschutzbehörden zurückweist.
543Jedenfalls verbleiben auch nach den genannten „Klarstellungen“ im Rahmen einer Gesamtwürdigung erhebliche Zweifel und tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen.
544Die Beklagte hat auch insoweit ermessensfehlerfrei gehandelt, § 114 Satz 1 VwGO. Es gilt hier das oben Gesagte.
545Schließlich steht der Einstufung als Verdachtsfall und der Prüfung und Beobachtung des Flügels in dem streitgegenständlichen Zeitraum - entgegen der klägerischen Auffassung - nicht entgegen, dass seit der Einstufung am 15. Januar 2019 bis zur Hochstufung am 12. März 2020 mehr als ein Jahr vergangen ist. Eine zeitliche Obergrenze sieht das Bundesverfassungsschutzgesetz nicht vor. Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt ebenfalls keine maximale Zeitgrenze. Dieser Grundsatz findet seine Ausprägung auch nicht im niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz. In § 6 Abs. 3 Satz 1 NVerfSchG heißt es zwar, dass spätestens zwei Jahre nach der Bestimmung zum Beobachtungsobjekt oder einer Verlängerung von der Verfassungsschutzbehörde zu prüfen ist, ob die Voraussetzung des Absatzes 1 Satz 2 weiterhin erfüllt ist. Zum einen ist dort aber schon von einer Verlängerung ausdrücklich die Rede. Nach Satz 2 sind die Gründe zu dokumentieren, sollten weiterhin tatsächliche Anhaltspunkte festgestellt worden sein. Nur falls dies zu dieser Zeit nicht mehr der Fall ist, ist die Beobachtung nach Satz 3 einzustellen.
546Eine absolute zeitliche Obergrenze widerspräche auch dem Schutzzweck der verfassungsschutzbehördlichen Beobachtung. Vielmehr ist es nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG Aufgabe des Verfassungsschutzes, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten, solange es für diese tatsächliche Anhaltspunkte gibt; eine zeitliche Einschränkung wird nicht gemacht. Insbesondere wäre es mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG nicht zu vereinbaren, wenn eine Beobachtung eingestellt werden müsste, wenn das Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen festgestellt worden ist und diese Anhaltspunkte weiter bestehen. Denn gerade in diesem Fall bedarf die weitere Entwicklung der Bestrebungen der Beobachtung. Die Beklagte steht nicht vor der Alternative, den verfassungsfeindlichen Personenzusammenschluss zu verbieten oder die Beobachtung einzustellen,
547vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1975 ‑ 2 BvL 13/73 ‑, BVerfGE 39, 334 (360); BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 ‑ 2 BvE 1/75 ‑, BVerfGE 40, 287 (291 f.); BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 (130 f. - Beobachtungszeitraum von über vier Jahren unbedenklich); VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03 -, juris Rn. 165 f.
548Anderes gilt allerdings, wenn sich im Rahmen einer „Dauerbeobachtung“ herausstellen würde, dass die verfassungsfeindlichen Bestrebungen (oder der entsprechende Verdacht) durch Entwicklungen in dem Personenzusammenschluss überholt sind, aus sonstigen Gründen obsolet sind oder wenn sich nach umfassender Aufklärung durch eine mehrjährige Beobachtung der Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen nicht bestätigt hat und die für eine Beobachtung maßgeblichen tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sind. Denn in diesen Fällen hat sich ein „Anfangsverdacht“ bezogen auf den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bestätigt,
549vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 30.97 -, BVerwGE 110, 126 (138); OVG NRW, Urteil vom 12. Februar 2008 - 5 A 130/05 -, juris Rn. 351; VG Köln, Urteil vom 11. November 2004 - 20 K 1882/03 -, juris Rn. 171 f.
550Vorliegend zeigen aber die oben genannten Zitate und Erklärungen, die nach der streitgegenständlichen Einstufung der Klägerin abgegeben worden sind, dass der Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebung weder durch Entwicklungen beim Flügel überholt war, noch die maßgeblichen tatsächlichen Zustände unverändert geblieben sind. Es lassen sich vielmehr zahlreiche dem Flügel zurechenbare Äußerungen und Handlungen seit dem 15. Januar 2019 finden, die ebenfalls Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen darstellen, sodass weitere Anhaltspunkte hinzugekommen sind.
5514. Auch der Klageantrag zu 2. - gerichtet auf Feststellung, dass die öffentliche Bekanntgabe der Einstufung des Flügels im Zeitraum vom 16. Januar 2019 bis 11. März 2020 rechtswidrig war - ist unbegründet.
552Dem Feststellungsanspruch der Klägerin steht entgegen, dass die Bekanntgabe über die Einordnung als Verdachtsfall im Zeitraum vom 16. Januar 2019 bis 11. März 2020 rechtmäßig war. Es gilt das oben unter 3. Gesagte.
5535. Der Antrag auf Feststellung, dass die Einstufung des Flügels als gesichert extremistische Bestrebung am 12. März 2020 rechtswidrig war (Antrag zu 6.), ist ebenfalls unbegründet.
554Dem Feststellungsanspruch steht entgegen, dass die Einstufung im streitgegenständlichen Zeitpunkt rechtmäßig war.
555Ermächtigungsgrundlage für die Einordnung, Prüfung und Beobachtung des Flügels durch das Bundesamt ist § 8 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 3 (a.F., heute Satz 5), § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG.
556Ausdrücklich ist dort nicht die Einstufung als gesichert extremistische Bestrebung geregelt. Diese ergibt sich aber aus dem - dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspringenden - Erfordernis der Abstufung der Beobachtungsintensität,
557vgl. Warg, a.a.O., S. 524.
558Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG darf das Bundesamt für Verfassungsschutz die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten erheben, verarbeiten und nutzen.
559Gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG ist Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes u.a. die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe a BVerfSchG sind Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in diesem Sinne zählen gem. Abs. 2 das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen (a),die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (b), das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition (c), die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung (d), die Unabhängigkeit der Gerichte (e), der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft (f) und die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte (g).
560Der Flügel war am 12. März 2020 jedenfalls (noch) taugliches Beobachtungsobjekt. Nach dem oben unter 3. Gesagten, hat sich der Flügel als organisierter Zusammenschluss in der Zeit nach Einstufung als Verdachtsfall durch das Bundesamt zunächst noch organisatorisch verfestigt.
561Es handelte sich bei dem Flügel im streitgegenständliche Zeitpunkt auch um eine erwiesen extremistische Bestrebung.
562Das Bundesverfassungsschutzgesetz selbst gibt keine Voraussetzungen vor, unter denen ein Personenzusammenschluss als erwiesen extremistische Bestrebung eingeordnet werden darf, denn es regelt explizit nur den Verdachtsfall. Hinsichtlich des Verdachtsgrades ist - auch vor dem Hintergrund des Wortlauts der Einstufung durch das Bundesamt selbst - eine Verdichtung von Verdachtsmomenten zur Gewissheit erforderlich,
563vgl. VG Ansbach, Urteil vom 25. April 2019 - AN 16 K 17.01038 -, Rn. 38, juris.
564Weiterhin ist zu beachten, dass sich der Verdachtsfall und eine erwiesen extremistische Bestrebung vor allem in dem Verdichtungsgrad der vorliegenden tatsächliche Verdachtsumstände unterscheiden und nicht vordergründig im Hinblick auf die rechtliche Beurteilung, ob die mutmaßliche Bestrebung extremistisch ist oder nicht,
565Warg, a.a.O., S. 532 f.
566Tatsächliche Anhaltspunkte, die einen Verdachtsfall auslösen, reichen also nicht mehr aus. Die Verdachtsphase muss überschritten werden. Aus der Beobachtung des Flügels während der Verdachtsphase muss hervorgehen, dass sich die tatsächlichen Anhaltspunkte dergestalt verdichtet haben, dass die Überzeugung besteht, dass es sich tatsächlich um extremistische Bestrebungen handelt.
567Im Rahmen der Beurteilung einer politischen Partei als erwiesen verfassungsfeindlich kommt es überdies auf inhaltlicher Ebene auf das Gesamtbild an, wobei die verfassungsfeindlichen Äußerungen und Verhaltensweisen den Charakter einer Partei prägen müssen. Das ist dann der Fall, wenn sie von einer die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnenden Grundtendenz beherrscht wird,
568BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2001 - 2 WD 42.00, 2 WD 43.00 -, BVerwGE 114, 258 = juris Rn. 14, 32; BVerfG, Urteil vom 17. August 1956 - 1 BvB 2/51 -, BVerfGE 5, 85 = juris Rn. 226.
569Diese Voraussetzungen lagen im hier maßgebeblichen Zeitpunkt des 12. März 2020 vor. Das erkennende Gericht hat bereits hinsichtlich der inhaltlichen Entwicklung des Flügels nach der Einstufung zum Verdachtsfall in einem Eilbeschluss vom 24. Oktober 2019 zu der dort in Streit stehenden Äußerung „Der Flügel wird immer extremistischer“ ausgeführt:
570„Abgesehen davon, dass weder der Antragsteller noch der „Flügel“ selbst gegen die Einstufung als Verdachtsfall um Rechtsschutz nachgesucht haben und sich der Antragsteller vorliegend allein gegen die Äußerung wendet, der „Flügel“ werde immer extremistischer, liegen für das beschließende Gericht nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung solche hinreichend gewichtigen tatsächlichen Anhaltspunkte vor. Die Antragsgegnerin hat im Rahmen der Antragserwiderung zahlreiche Belege aus jüngster Zeit vorgelegt, die Reden und Äußerungen von Mitgliedern des „Flügels“ - auch des Antragstellers selbst - betreffen. Die Zitate lassen nach summarischer Prüfung den vom Präsidenten des Bundesamtes in dem streitgegenständlichen Zitat geäußerten Schluss - anders als der Antragsteller meint - als jedenfalls vertretbar erscheinen.“
571VG Köln, Beschluss vom 24. Oktober 2019 - 13 L 2217/19 -, juris Rn. 16.
572Neben dieser damals allerdings im Rahmen des Eilverfahrens vorgenommenen summarischen Prüfung hat das Bundesamt hier einige Anhaltspunkte dargelegt, die eine Verdichtung der tatsächlichen Verdachtsmomente beim Flügel jedenfalls bis zum 12. März 2020 begründen.
573Oben wurde bereits ausgeführt, dass die führenden Repräsentanten des Flügels auch nach Einstufung als Verdachtsfall im Beobachtungszeitraum vom 16. Januar 2019 bis zum 12. März 2020 nahtlos und unbeeindruckt weiter extremistische Begriffe verwendet, ihr Volksverständnis verbunden mit einer Abwertung nicht autochthoner Deutscher vertreten und massive ausländerfeindliche Agitation betrieben haben. Das Aufgeben oder Abschwächen einer vom Bundesamt beanstandeten Position ist nicht zu verzeichnen. Auch kann keine Mäßigung hinsichtlich der Verwendung der - auch vom Gutachter der Klägerin selbst - beanstandeten Begriffe festgestellt werden. Im Gegenteil hat Höcke - wie bereits dargelegt - die Verwendung von Begriffen wie der „Große Austausch“ gerechtfertigt, da ihm kein treffenderer Begriff einfalle. Auch hat er auf die Frage nach dem Verzicht auf provokative Aussagen bekannt:
574„Klugheit kommt vor Mut, denn manche Opfer kann ein Mensch nur einmal bringen. [...] Trotzdem verzichte ich nicht auf die öffentliche Darstellung von Visionen, was die politisch ‚Ausgebuffteren‘ in der Partei als politisch unklug bezeichnen. Über philosophische Grundfragen oder die Kritik am real existierenden Kapitalismus habe ich im vorigen Jahr mit Nie zweimal in denselben Fluss ein ganzes Buch veröffentlicht.“ (Gutachten II Bl. 50 f.)
575Damit gibt er zu verstehen, dass er von seinen Ideen und den verwendeten Aussagen und Begriffen keinen Abstand nimmt. Obwohl die Äußerungen selbst nach Auffassung der Flügel-Vertreter mindestens missverständlich sein sollen - anders lassen sich die nachgeschobenen „Klarstellungen“ nicht erklären - wurde an der Verwendung und den Äußerungen in dem Zeitraum von der Einstufung zum Verdachtsfall bis zur Höherstufung festgehalten. Dass der Flügel trotz der Einstufung zum Verdachtsfall und in Kenntnis der Beanstandungen diese Bestrebungen offensichtlich weiter betrieben hat, ist daher bereits ein hinreichendes Anzeichen für eine Verdichtung der Verdachtsmomente.
576Das völlige Entfallen einer kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Positionen und Äußerungen zeigt sich nicht nur durch die Fortsetzung und Aufrechterhaltung der oben genannten Anhaltspunkte. Darüber hinaus versuchte Höcke, Druck auf diejenigen auszuüben, die Kritik am Kurs und den Äußerungen des Flügels äußern. Er verwendete dabei eine scharfe Rhetorik und bezeichnete sie unter anderem als „Feindzeugen“, die die „Todsünde“ begingen und die Spaltung der Partei betrieben:
577„Zeigen wir auch den unseligen Feindzeugen unserer Partei die Rote Karte. [...] Das sind Parteimitglieder, die entweder schon im Entstehen der Partei als Trojaner installiert [wurden] oder, weil sie nach einigen Brosamen medialer Aufmerksamkeit dürsten, die eigenen Leute attackieren und als Stichwortgeber für den Verfassungsschutz auftreten.“ (Gutachten II Bl. 43, 23. Januar 2019)
578„Und dennoch wittern manche Teile in der AfD die große Chance auf eine ‚Bereinigung‘ von ungeliebten, patriotischen Kräften und begehen die Todsünde des ‚Feindzeugen‘: Sie belasten eigene Parteikollegen und -gruppierungen mit zumeist völlig unhaltbaren ‚Extremismus‘-Vorwürfen. Das ist in jedem Fall grob fahrlässig, wenn nicht sogar Vorsatz. Hier muss dringend Einhalt geboten werden und sich die Einsicht durchsetzen: solange Angriffe von außen für innerparteiliche Machtkämpfe instrumentalisiert werden, arbeitet man dem politischen Gegner und den VS-Behörden in die Hände und der zersetzende Spaltpilz kann sich in der Partei ungehindert ausbreiten.“ (Gutachten II Bl. 44, Februar 2019)
579Höcke versucht damit unter Verwendung martialischer Rhetorik und Schärfe, eine kritische Auseinandersetzung mit den Äußerungen der Repräsentanten des Flügels auch in der Gesamtpartei zu vermeiden und weist Kritik an diesen Positionen scharf zurück. Dass eine Auseinandersetzung gescheut wird, zeigt sich auch daran, dass er ein Interview des ZDF bei kritischen Nachfragen abgebrochen und den Interviewern gedroht hat (vgl. Gutachten II Bl. 45 Fn. 95, Bl. 47 f.).
580Sofern Relativierungen oder „Klarstellungen“ vorgenommen worden sind, zeigt sich, dass dies taktisch motiviert war. Es wird nämlich der Versuch unternommen, den objektiven Erklärungsgehalt der Aussagen umzudeuten und die sich aufdrängende Auslegung in Frage zu stellen, siehe oben und Bl. 463 ff. GA. Es erfolgt keine Distanzierung oder Rücknahme der beanstandeten Äußerungen, sondern es wird behauptet, dass die Aussagen mehrdeutig gewesen oder falsch verstanden worden seien.
581Die „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ der Klägerin vom 18. Januar 2021, die auch von Björn Höcke (und weiteren Flügel-Vertretern) unterzeichnet worden ist, ändert an der Beurteilung des Flügels nichts.
582Es kann dahinstehen, ob die Erklärung allein aus (prozess-)taktischen Gründen abgegeben worden ist. Denn eine wirkliche Abkehr von dem oben genannten Volksverständnis ergibt sich daraus nicht. Zwar wird dort das „deutsche Staatsvolk“ als Summe aller Personen bezeichnet, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand habe. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk sei von der ethnisch-kulturellen Identität rechtlich unabhängig. In Ziffer 2 der Erklärung wird sodann aber eine Unterscheidung zum „Deutschen Volk“ gemacht, welches langfristig erhalten werden solle. Damit wird suggeriert, dass das „deutsche Staatsvolk“ ein rechtliches Gebilde, wohingegen das „deutsche Volk“ ein dem rechtlichen Konstrukt vorausliegendes tatsächliches und ethnisch-kulturell bestimmtes Gebilde ist. Auch die übrigen Formulierungen verstärken dieses Verständnis. Das in der Erklärung formulierte politische Ziel, „dem deutschen Staatsvolk auch eine deutsche kulturelle Identität über den Wandel der Zeit erhalten“, läuft darauf hinaus, die Einbürgerungsvoraussetzungen so zu gestalten, dass das „Staatsvolk“ dem „deutschen Volk“ möglichst entspricht und es nicht zu viele Abweichungen gibt.
583Es kann aber auch die weitere Auslegung der Erklärung dahinstehen. Denn für den Flügel lässt sich daraus kein Beleg für die Ablehnung völkischer und rassistischer Einstellungen ableiten.
584Ein Personenzusammenschluss kann einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht dadurch entgehen, dass er sich in seinen offiziellen Dokumenten formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und dort auf das Propagieren verfassungsfeindlicher Ziele verzichtet, wenn seine Mitglieder eben doch die Ablehnung eines Elements der freiheitlich demokratischen Grundordnung zum Bestimmungsgrund ihres politischen Handelns machen,
585vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1952 - 1 BvB 1/51 -, BVerfGE 2, 1 = juris Rn. 52; BVerwG, Urteil vom 12. März 1986 - 1 D 103.84 -, BVerwGE 83, 158 = juris Rn. 35; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2011 ‑ OVG 1 B 111.10 -, juris Rn. 48.
586Für eine ernsthafte und glaubwürdige Abwendung von früheren verfassungsfeindlichen Bestrebungen genügt auch ein zeitweiliges oder situationsbedingtes Unterlassen einschlägiger Betätigungen nicht. Es bedarf vielmehr grundsätzlich eines von innerer Akzeptanz mitgetragenen kollektiven oder individuellen Lernprozesses, der sich auf die inneren Gründe für die Handlung bezieht und aufgrund dessen angenommen werden kann, dass mit hinreichender Gewissheit zukünftig die Verfolgung oder Unterstützung solcher Bestrebungen auszuschließen ist,
587Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Urteil vom 11. Juli 2002 - 13 S 1111/01, juris, Rn. 55; OVG Hamburg, Beschluss vom 7. April 2006 - 3 Bf 442/03, juris, Rn. 16; VG Gießen, Urteil vom 3. Mai 2004 - 10 E 2961/03, juris, Rn. 38.
588Dies setzt in der Regel voraus, dass eingeräumt oder zumindest nicht bestritten wird, dass zuvor zumindest Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorgelegen haben; werden die früheren Anhaltspunkte abgestritten, verharmlost, bagatellisiert oder entschuldigt, so spricht dies gegen eine glaubhafte Distanzierung,
589VG Gießen, Urteil vom 3. Mai 2004 - 10 E 2961/03, juris, Rn. 38.
590Die oben aufgeführten abgegebenen Erklärungen der Vertreter des Flügels, die über einen längeren Zeitraum konstant in Zielrichtung und Wortwahl von mehreren Führungspersönlichkeiten des Flügels abgegeben worden sind, werden daher nicht durch eine formale Erklärung aus dem Januar 2021 infrage gestellt. Eine Abkehr von bisherigen Auffassungen ist nicht zu erkennen.
591Deutlich wird dies auch in der Reaktion des Flügels auf den Ausschluss eines der beiden Haupt-Führungsfiguren des Flügels, Andreas Kalbitz. Mit Beschluss des Vorstands der Klägerin vom 15. Mai 2020 wurde die Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz für nichtig erklärt, da er nach Überzeugung der Mehrheit des Bundesvorstandes bei seiner Aufnahme die frühere Mitgliedschaft in der rechtsextremen und seit März 2009 verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“
592vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 11. August 2009 ‑ 6 VR 2.09 ‑, sowie Urteil vom 1. September 2010 ‑ 6 A 4.09 ‑, jeweils juris,
593verschwiegen habe.
594Der Flügel hat nicht nur den Ausschluss Kalbitz aus der Klägerin nicht betrieben und unterstützt, er hat diesen Schritt vielmehr kritisiert und als (schweren) Fehler bezeichnet. So äußerte Höcke:
595„Also ich möchte an der Stelle vielleicht noch mal betonen, dass ich nach wie vor den Entzug der Mitgliederrechte von Andreas Kalbitz für einen schweren Fehler halte. Andreas Kalbitz hat sich um den Landesverband Brandenburg verdient gemacht. Er hat ihn erfolgreich gemacht, und er hat viel Arbeit investiert. Dass wir hier als AfD im Osten als politische Größe nicht mehr wegzudenken sind und aus der Opposition heraus wirken können, das ist der Verdienst und das Verdienst von Andreas Kalbitz. Daran hat er mitgewirkt.“ (Anlage B101).
596Auch Jens Maier hat Kalbitz öffentlich Solidarität bekundet:
597„Andreas Kalbitz gehört für mich immer noch zur Partei [...] Wer in diesen Zeiten nicht als Rechtsextremist diffamiert wird, der macht irgendetwas verkehrt“ (Bl. 586 GA 13 L 105/21)
598Hinzu kommt, dass Andreas Kalbitz seit dem Ausschluss aus der Klägerin nunmehr parteiloses Mitglied der Landtagsfraktion Brandenburg der Klägerin ist. Die Landtagsfraktion hat ihre Geschäftsordnung eigens für Andreas Kalbitz entsprechend angepasst (Bl. 299, 587 GA 13 L 105/21). Kalbitz tritt auch weiterhin auf Veranstaltungen des brandenburgischen Landesverbandes der Klägerin auf (Bl. 478 f., 590 GA 13 L 105/21) und wurde von der Landtagsfraktion für einen Sitz in der Parlamentarischen Kontrollkommission aufgestellt (Bl. 579 ff. GA 13 L 105/21).
599Es hat demnach nicht nur keine Distanzierung von Andreas Kalbitz stattgefunden. Die Annullierung seiner Mitgliedschaft wurde vom Flügel und dem brandenburgischen Landesverband der Klägerin schlicht missachtet und ihm vielmehr Solidarität ausgesprochen.
600Auch über die Causa Kalbitz hinaus wurden Maßnahmen des Bundesvorstands gegenüber Flügel-Mitgliedern bei Vertretern des Flügels weiterhin kritisch gesehen. Insbesondere lösten Maßnahmen des Bundesvorstands Kritik aus, die sich gegen eine Beobachtung durch das Bundesamt und damit auch gegen einzelne Mitglieder des Flügels richten. So äußerte Höcke in einer Rede am 6. Juli 2019:
601„Aber Institutionenvertrauen ist nicht nur eine Bringschuld der einfachen Mitglieder, Institutionenvertrauen muss vor allen Dingen auch durch eine neutrale Amtsführung erworben und gepflegt werden und jetzt komme ich zum Bundesvorstand. [...] Ich habe immer das Gefühl, dass sich die Damen und Herren im Bundesvorstand - nicht alle, bitte verkennt das nicht, ich will nicht pauschalisieren - doch zu sehr treiben lassen, dass sie wirklich glauben, sie hätten irgendeine Bringschuld zu leisten gegenüber denen, die es nicht gut mit uns meinen. Gelassenheit, die ich selber postuliere und ich versuche zu leben, erkenne ich wenig daher, aber oder dafür aber umso mehr Ungleichbehandlung. Und das sei abschließend zu dem unangenehmen Teil meiner Rede gesagt, ich bin kein Machtpolitiker, das wisst ihr alle. Ich bin kein Mann, der mit Leidenschaft Strippen zieht. Das ist bekannt, das ist meine große Schwäche, aber vielleicht habe ich auch einen anderen Auftrag. Aber eins kann ich Euch versprechen, nachdem ich meine ganze Energie jetzt in die Landtagswahlkämpfe in Brandenburg, in Sachsen und Thüringen investiert habe und wenn hier am 27.10. in Thüringen Geschichte geschrieben worden ist und der kryptokommunistische Ministerpräsident Bodo Ramelow in den unverdienten Ruhestand geschickt worden ist, dann ja, dann werde ich mich zum ersten Mal mit großer Hingabe und mit großer Leidenschaft der Neuwahl des Bundesvorstandes hingeben. Und ich kann euch garantieren, dass dieser Bundesvorstand in dieser Zusammensetzung nicht wieder gewählt wird.“ (Gutachten II Bl. 23 f.)
602Auch wenn Höcke seinen Einfluss auf die Gesamtpartei einerseits bestreitet, so stellt er im Widerspruch dazu in derselben Rede in Aussicht, dafür sorgen zu können, dass Mitglieder des Bundesvorstandes nicht wiedergewählt werden. Seine Reaktion auf Maßnahmen des Bundesvorstands ist demnach der persönliche Einsatz „mit großer Hingabe und mit großer Leidenschaft“ dafür, dass die entsprechenden Vorstandsmitglieder abgewählt werden.
603In derselben Rede äußerte Höcke auch Kritik am bayrischen Landesschiedsgericht der Klägerin, das in der Zugehörigkeit zum Flügel einen Verstoß gegen die Bundessatzung der Klägerin gesehen hatte. Er verneinte eine Mitgliederstruktur und versuchte, den Zusammenschluss des Flügels herunterzuspielen (Gutachten II, Bl. 22 f.).
604Darüber hinaus wurde vonseiten des Flügels mehrfach der Versuch unternommen, die Unvereinbarkeitsliste der Klägerin abzuschaffen. Diese Liste schließt eine Mitgliedschaft in der Klägerin aus, sofern auch eine Mitgliedschaft in einer der bezeichneten extremistischen, terroristischen oder kriminellen Vereinigung besteht,
605abrufbar unter https://www.afd.de/unvereinbar/.
606So wurde bei einem Treffen des „Flügels“ im bayerischen Greding im Mai 2019 die Forderung laut, die Unvereinbarkeitsliste abzuschaffen. Diese gehöre auf den „Müllhaufen der Parteigeschichte“, sagte Benjamin Nolte, damals Mitglied des bayerischen Landesvorstands der AfD und einer der führenden Organisatoren des „Flügels“ in Bayern (B 22):
607„Diese Unvereinbarkeitsliste hatte sicher in der Anfangszeit ihre Existenzberechtigung, um zu verhindern, dass unsere Partei in einer Phase, in der sie schnell gewachsen ist und auch sehr unkontrolliert gewachsen ist, von den falschen Leuten geentert wird. Dass diese Partei in dieser Zeit von den falschen Leuten nicht nur geentert, sondern auch geführt wurde, ist ein anderes Thema. Sechs Jahre nach der Gründung, nachdem unsere Partei flächendeckend gefestigte Strukturen hat, nachdem sie in alle Landtage und in den Deutschen Bundestag eingezogen ist, kann man schon die Frage stellen, ob sich eine freiheitliche Partei, die wir sein wollen, ob auf einer seitenlangen Liste darüber definieren muss, wovon sie sich alles distanziert. Man kann sich die Frage stellen, ob wir auch weiterhin Leute, die vielleicht in jungen Jahren, als es noch keine seriöse Alternative zu den Altparteien gab, auf der Suche nach einer patriotischen Oppositionspartei im Glauben, einer gute[n] Sache zu dienen, auf ihrem Weg vielleicht zu weit in die eine oder andere Richtung abgebogen sind, ob wir solchen Leuten für alle Zeiten die Teilhabe in unserer demokratischen Partei verwehren wollen. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir Einzelne von denen - nicht alle, bei weitem nicht alle - aber Einzelne von denen, die schon vor Gründung unserer Partei gewisse Strukturen in unserem Land in Frage gestellt haben und den schädlichen Kurs der Altparteien kritisch hinterfragt haben, dass wir Einzelne dieser Leute in unserem gemeinsamen Freiheitkampf gut an unserer Seite gebrauchen können und dass Einzelne dieser Leute dem Wesen unserer Partei und den Widerstandsgeist unserer Partei näher stehen als die Ausschussware der Altparteien ... Und ich betone nochmal: Das gilt für Einzelne, bei weitem nicht für alle, aber das ist bei den Altparteilingen genauso. 90% der Söder-Klatsch-Affen aus der CSU will ich persönlich auch nicht geschenkt haben. [...] Und hier möchte ich meinen lieben Landesvorstandskollegen Georg Hock zitieren: ,Die größten Probleme in unserer Partei verursachen immer noch Leute, die aus Parteien kommen, die nicht auf der Unvereinbarkeitsliste stehen'. Oder um es kurz zu machen: Wir müssen uns die Frage stellen, ob diese Liste noch zeitgemäß ist oder ob wir nicht vielmehr gut daran tun würden, dieses Relikt aus der Ära Lucke auf den Müllhaufen der Parteigeschichte zu werden. Oder ob wir zumindest so konsequent sein wollen, die CDU, die SPD, die FDP, die Grünen und die Linke auch auf diese Liste zu setzen. Mit diesen Genannten wollen wir auch nichts zu tun haben“. (Belegsammlung II Bl. 2375, 2385 f.)
608Auch wurde im Vorfeld des Bundesparteitages der Klägerin Ende 2019 mehrfach von Flügel-Vertretern die Streichung dieser Liste gefordert (Anlagen B23-B26 BA 1). Daraus folgt, dass der Flügel die Aufnahme von Vertretern extremistischer Organisationen ermöglichen wollte, weil er diesen Organisationen offenbar nahe steht.
609Neben den im Gutachten I (dort Bl. 408 ff.) und Gutachten II (dort Bl. 226 ff.) zu Björn Höcke aufgeführten Verbindungen, sticht insbesondere die Causa Kalbitz hinaus. Andreas Kalbitz Mitgliedschaft in der Klägerin wurde annulliert mit der Begründung, dass Kalbitz seine Mitgliedschaft in dem Verein „Heimattreue Deutsche Jugend“ verschwiegen habe. Ein Bericht des ARD-Magazins Kontraste aus dem Jahr 2018 zeigt anhand von Lichtbildern die Teilnahme Kalbitz‘ an einem „Pfingstlager“ des Vereins im Jahr 2007. Kalbitz hat den Besuch nicht bestritten, ihn aber als „Informationsbesuch“ bezeichnet. Er sei nicht über die verfassungsfeindliche Ausrichtung des Vereins,
610vgl. dazu die die Verbotsverfügung des Bundesministerium des Innern (BMI) vom 9. März 2009 bestätigenden Entscheidungen des BVerwG, Beschluss vom 11. August 2009 ‑ 6 VR 2.09 ‑ und Urteil vom 1. September 2010 ‑ 6 A 4.09 ‑, jeweils juris,
611informiert gewesen (Gutachten II Bl. 228). Einen weiteren Pressebericht zu einem Besuch eines „Sommerlagers“ des Vereins wies Kalbitz als Falschmeldung zurück. Das Bundesamt trägt überdies vor, über eine Mitgliederliste zu verfügen, in der unter der Mitgliedsnummer 01330 die „Familie Andreas Kalbitz“ genannt werde. Sogar der Bundesvorstand der Klägerin war mehrheitlich der Überzeugung, dass Kalbitz die Unwahrheit sagt und seine Mitgliedschaft bei seinem Parteieintritt verheimlicht habe und annullierte mit dieser Begründung die Parteimitgliedschaft Kalbitz‘,
612https://www.afd.de/bundesvorstand-beschliesst-andreas-kalbitz-ist-nicht-mehr-mitglied-der-partei/ [abgerufen am 16. Februar 2022].
613Ebenso belegt sind Verbindungen von Kalbitz zur rechtsextremistischen NPD, die laut Bundesverfassungsgericht verfassungsfeindlich ist,
614BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144, 20-369.
615Kalbitz war im Jahr 2007 Teil einer Reisegruppe von 13 deutschen Rechtsextremisten zu einer Kundgebung des Bündnisses „Patriotische Allianz“ in Kooperation mit der griechischen rechtsextremistischen Partei „Goldene Morgenröte“. Der NPD-Bundesvorsitzenden Udo Voigt war Teil der Reisegruppe. Kalbitz räumte die Reise ein, dementierte jedoch eine Mitgliedschaft oder ein Engagement in der NPD. NPD-Funktionär Karl Richter erklärte auf Facebook am 4. Dezember 2017, mit Kalbitz verbinde ihn „eine langjährige politische Freundschaft“ (Gutachten II Bl. 230).
616Höcke und Kalbitz pflegen auch Verbindungen zum islamfeindlichen Verein „Zukunft Heimat“ und der „PEGIDA“-Bewegung. Kalbitz bezeichnete die Organisationen als gemeinsame Bewegung:
617„Ich danke all denen außerhalb der Partei, die Bestandteil unserer Bewegung sind. Ich rede von ‚Zukunft Heimat‘, ich rede von PEGIDA. Stehen zusammen, wir sind eine Bewegung! Und wir lassen uns auch nicht aus-einanderdividieren. Wir lassen uns auch keine Angst machen von denen, die keine Argumente mehr haben.“ (Gutachten II Bl. 231)
618Vorliegend gibt es somit zahlreiche Belege, die in der Gesamtschau die Annahme einer Verdichtung der Verdachtslage zur Gewissheit tragen. Die Vertreter des Flügels haben in Kenntnis der Einstufung als Verdachtsfall und in Kenntnis der Beurteilung der Aussagen sogar durch den eigenen Gutachter an den inkriminierten Äußerungen festgehalten, sie wiederholt und sie verteidigt. Insbesondere die Führungsfigur Höcke hat darüber hinaus versucht, jede kritische Auseinandersetzung im Keim zu ersticken und Kritikern in der Gesamtpartei gedroht. Er hat seinen persönlichen unermüdlichen Einsatz für eine Abwahl ihm nicht wohlgesonnener Vorstandsmitglieder der Klägerin in Aussicht gestellt. Maßnahmen des Bundesvorstands wurden vom Flügel kritisiert und nicht toleriert. Insbesondere bekundete der Flügel seine Solidarität mit Andreas Kalbitz nach der Annullierung seiner Mitgliedschaft durch den Bundesvorstand der Klägerin. Dieser wurde letztlich vollständig missachtet. Darüber hinaus wurden Versuche unternommen, die Unvereinbarkeitsliste zu streichen und damit (weitere) extremistische Mitglieder aufzunehmen. Auch bestanden und bestehen (enge) Kontakte und Solidaritätsbekundungen zu und mit anderen als extremistisch eingestuften Parteien und Organisationen. Entlastende Umstände kann der Flügel nicht vorbringen bis auf „Klarstellungen“ einzelner Aussagen, die aber ersichtlich prozesstaktisch motiviert sind und Lippenbekenntnisse darstellen, weil sie im Widerspruch zu zahlreichen anders lautenden Äußerungen (bzw. deren nahe liegender Auslegung) stehen.
619Es sind überdies keine Äußerungen aus dem Flügel bekannt (und es wurden auch - trotz der umfangreichen Ausführungen der Klägerseite - keine solchen vorgetragen), die als ernsthafte Abgrenzungsbemühungen gewertet werden können. Betrachtet man nur den Flügel als Teilorganisation, so ist daher davon auszugehen, dass dieser in dem streitgegenständlichen Zeitraum von einer die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnenden Grundtendenz beherrscht war, da gegenläufige Äußerungen, Zurechtweisungen oder Distanzierungen innerhalb des Flügels nicht verzeichnet werden können.
620Auch Ermessensfehler sind nicht ersichtlich, § 114 Abs. 1VwGO. Es gilt das oben zur Einstufung als Verdachtsfall Gesagte entsprechend.
6216. Der Antrag auf Feststellung, dass die Bekanntgabe, der Flügel werde als gesichert extremistische Bestrebung behandelt etc., am 12. März 2020 rechtswidrig war (Klageantrag zu 7.), ist auch unbegründet. Die Klägerin hat keinen entsprechenden Anspruch.
622Dem Feststellungsanspruch der Klägerin steht entgegen, dass die Bekanntgabe am 12. März 2020 rechtmäßig war.
623Ermächtigungsgrundlage ist § 16 Abs. 1 BVerfSchG. Danach informiert das Bundesamt über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 3 Abs. 1 BVerfSchG, soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen.
624Die Anwendung der Vorschrift ist - wie bereits dargelegt - nicht durch Art. 21 Abs. 4 GG gesperrt.
625Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage sind erfüllt. Es liegt eine Verdichtung zur Gewissheit für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c BVerfSchG vor.
626Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist schließlich verhältnismäßig. Zwar greift sie in die Rechte der Klägerin ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Auch hier gilt das oben zur Bekanntgabe über die Einstufung als Verdachtsfall Gesagte entsprechend. Insbesondere ist das Bundesamt zu einer entsprechenden Bekanntgabe berechtigt, wenn sich die Anhaltspunkte dergestalt verdichtet haben, dass von einer beherrschenden Grundtendenz beim Beobachtungsobjekt ausgegangen werden kann.
6277. Der Klageantrag zu 3. ist hingegen begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Unterlassung der Einordnung, Beobachtung, Behandlung und Prüfung des Flügels als gesichert extremistische Bestrebung.
628Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch,
629vgl. zum allgemein anerkannten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs, BVerwG Beschluss vom 11. November 2010 - 7 B 54.10 -, juris, Rn. 14,
630setzt voraus, dass die Einordnung, Prüfung und Beobachtung als gesichert extremistische Bestrebung durch das Bundesamt rechtswidrig ist.
631Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Denn der Unterlassungsanspruch wird im Rahmen einer Leistungsklage geltend gemacht und richtet sich in die Gegenwart,
632vgl. Polzin, Der maßgebliche Zeitpunkt im Verwaltungsprozess, JuS 2004, 211, 213 m.w.N.
633Ermächtigungsgrundlage für die Einordnung, Prüfung und Beobachtung des Flügels durch das Bundesamt ist § 8 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 5 (n.F.), § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG.
634Nach den oben dargelegten Maßstäben ist bei der Einstufung als gesichert extremistische Bestrebung hinsichtlich des Verdachtsgrades eine Verdichtung von Verdachtsmomenten zur Gewissheit erforderlich,
635vgl. VG Ansbach, Urteil vom 25. April 2019 - AN 16 K 17.01038 -, Rn. 38, juris.
636Weiterhin ist zu beachten, dass sich der Verdachtsfall und eine erwiesen extremistische Bestrebung vor allem in dem Verdichtungsgrad der vorliegenden tatsächliche Verdachtsumstände unterscheiden und nicht vordergründig im Hinblick auf die rechtliche Beurteilung, ob die mutmaßliche Bestrebung extremistisch ist oder nicht,
637Warg, a.a.O., S. 532 f.
638Tatsächliche Anhaltspunkte, die einen Verdachtsfall auslösen, reichen also nicht mehr aus. Die Verdachtsphase muss überschritten werden. Aus der Beobachtung des Flügels während der Verdachtsphase muss hervorgehen, dass sich die tatsächlichen Anhaltspunkte dergestalt verdichtet haben, dass die Überzeugung besteht, dass es sich tatsächlich um extremistische Bestrebungen handelt.
639Im Rahmen der Beurteilung einer politischen Partei als erwiesen verfassungsfeindlich kommt es überdies auf inhaltlicher Ebene auf das Gesamtbild an, wobei die verfassungsfeindlichen Äußerungen und Verhaltensweisen den Charakter einer Partei prägen müssen. Das ist dann der Fall, wenn sie von einer die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnenden Grundtendenz beherrscht wird,
640BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2001 - 2 WD 42.00, 2 WD 43.00 -, BVerwGE 114, 258 = juris Rn. 14, 32; BVerfG, Urteil vom 17. August 1956 - 1 BvB 2/51 -, BVerfGE 5, 85 = juris Rn. 226.
641Diese Voraussetzungen liegen im hier maßgebeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) vor. Denn der Flügel ist nach seiner formalen Auflösung kein taugliches Beobachtungsobjekt - jedenfalls im Rahmen einer Einstufung als gesichert extremistische Bestrebung - mehr.
642Denn bei der Einstufung als gesicherte Bestrebung muss auch eine Verdichtung zur Gewissheit bestehen bzw. muss „gesichert“ sein, dass der einzustufende Personenzusammenschluss (noch) existiert.
643Im BVerfSchG ist nur der Verdachtsfall geregelt. Nach dem klaren Wortlaut des § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG ist Voraussetzung für das Sammeln und Auswerten von Informationen im Sinne des § 3 Abs. 1 - also für die „Beobachtung“ - lediglich das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte. Demzufolge reicht im Falle der Verdachtsfalleinstufung auch der Verdacht - also das Vorliegen allein (tatsächlicher) Anhaltspunkte - hinsichtlich des Vorliegens einer Bestrebung aus. Bestrebungen sind nach der Definition des § 4 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss. Der Personenzusammenschluss ist also ein „Element der Bestrebung“,
644vgl. auch Warg, a.a.O., S. 535.
645Bei einem Verdachtsfall müssen sich demnach die tatsächlichen Anhaltspunkte auf die Bestrebung und damit auch auf die Existenz des Personenzusammenschlusses beziehen. Im Rahmen des Klageantrags zu 3. geht es allerdings um die Hochstufung bzw. Einstufung des Flügels durch das Bundesamt als „erwiesen bzw. gesichert extremistische Bestrebung“. Insoweit reichen daher allein tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine Bestrebung und damit ein Personenzusammenschluss (noch) vorliegt, nicht aus. Es muss sich anhand der tatsächlichen Umstände zur Gewissheit verdichtet haben, dass eine verfassungsfeindliche Bestrebung und damit ein Personenzusammenschluss im Sinne des § 4 Abs. 1 BVerfSchG (noch) existiert. Eine solche Verdichtung zur Gewissheit liegt aber nicht vor.
646Zweifel an einer Verdichtung zur Gewissheit ergeben sich insbesondere aus der formalen Auflösung des Flügels zum 30. April 2020.
647Der Vorstand der Klägerin hat am 20. März 2020 beschlossen, dass er als Ergebnis des morgigen „Flügel“-Treffens eine Erklärung darüber erwarte, dass sich der informelle Zusammenschluss „Flügel“ bis zum 30. April 2020 auflöst und zur Umsetzung dieser Forderung am 6. April 2020 den im Tatbestand wiedergegebenen weiteren Beschluss gefasst, in dem der Flügel zu konkreten Schritten aufgefordert wurde.
648Diese formalen Bedingungen wurden - davon geht auch das Bundesamt aus - vom Flügel zum 30. April 2020 erfüllt, nachdem Björn Höcke und Andreas Kalbitz „die Anhänger des Flügels öffentlich aufgefordert hatten, bis zum 30. April ihre Aktivitäten im Rahmen des ‚Flügels‘ einzustellen.“
649Auch wenn fraglich sein mag, ob es sich nur um eine scheinbare Auflösung handelt und die Aktivitäten im Hintergrund weiter gehen, so bedarf es aufgrund der jedenfalls formalen Auflösung neuer gewichtiger Belege für die Annahme, der Flügel bestehe weiterhin,
650vgl. auch VG Berlin, Beschluss vom 27. August 2021 - VG 1 L 308.21 -, juris Rn. 26.
651Dem Bundesamt ist zuzugeben, dass die weitere Beobachtung in der Tat nicht unzulässig wird, sofern es weiterhin tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine verfassungsfeindliche Bestrebung existiert. Ob dies im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu bejahen ist, kann hier aber dahinstehen. Denn das Bundesamt darf die Bestrebung im Falle des Vorliegens (allein) tatsächlicher Anhaltspunkte zwar als Verdachtsfall einstufen, jedoch nicht als erwiesen oder gesichert extremistische Bestrebung bezeichnen und einordnen, sodass bei Wegfallen der Gewissheit - auch bezogen auf die Frage der Existenz des Personenzusammenschlusses - ein als gesichert extremistische Bestrebung eingestuftes Beobachtungsobjekt sodann wieder heruntergestuft werden muss.
652Seit der formalen Auflösung existieren - auch nach Auffassung des Bundesamts - allein tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Flügel innerhalb der Klägerin als Personenzusammenschluss weiterhin agiert. Auch aus den weiteren vorgetragenen Umständen - insbesondere der Tatsache, dass die bisherigen Protagonisten nicht aus der Klägerin ausgeschieden sind, die Auflösung nicht auf Initiative des Flügels geschah und einige Protagonisten angekündigt haben, ihren politischen Kurs fortzusetzen (im Einzelnen Bl. 451 ff., 1390 ff. GA) - lassen sich zwar Anhaltspunkte ableiten, nicht jedoch eine Verdichtung zur Gewissheit.
653Davon geht auch die Beklagte selbst aus. Sie schreibt in ihrem Schriftsatz vom 26. März 2021 (Bl. 510 GA):
654„Die weitere Beobachtung des „Flügels“ ist nicht mit der zum Ende April 2020 erklärten formellen Selbstauflösung unmöglich oder unzulässig geworden, sondern darf fortgesetzt werden, bis geklärt ist, ob der „Flügel“ tatsächlich aufgelöst und seine Existenz beendet ist oder ob die Selbstauflösung lediglich formal erfolgte und die Bestrebungen des ,Flügels“ in Wirklichkeit fortgeführt werden, wofür es bereits tatsächliche Anhaltspunkte gibt.“
655Dass weiterhin Zweifel an der Fortsetzung des Personenzusammenschlusses vorliegen, ergibt sich auch daraus, dass die Beklagte selbst noch am 22. Oktober 2021 ihre Einschätzung wiederholt hat, dass (weiterhin) nicht geklärt sei, ob der Flügel seine Bestrebungen fortsetzt und für eine Fortsetzung allein tatsächliche Anhaltspunkte bestehen würden:
656„Wie bereits dargelegt, war und ist eine weitere Beobachtung des „Flügels“ nicht mit der zum Ende April 2020 erklärten formellen Selbstauflösung unmöglich oder unzulässig geworden, sondern durfte und darf fortgesetzt werden, bis geklärt ist, ob der ‚Flügel‘ tatsächlich aufgelöst und seine Existenz beendet ist oder ob die Selbstauflösung lediglich formal erfolgte und die Bestrebungen des ‚Flügels‘ in Wirklichkeit fortgeführt werden, zumal Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das hinter dem ‚Flügel‘ stehende Personennetzwerk innerhalb der Klägerin weiter besteht, da mit der formalen Auflösung des ‚Flügels‘ dessen Funktionäre, Protagonisten und Anhänger nicht aus der Gesamtpartei ausgeschlossen worden oder ausgeschieden sind und dort Aktivitäten entfalten und auch über einen strukturellen Rückhalt verfügen.“ (Schriftsatz der Bekl. vom 22. Oktober 2021, Bl. 9)
657Die Beklagte hat diese Ungewissheit auf Nachfrage des Gerichts auch ausdrücklich nochmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestätigt.
658Über den - ohnehin nur eine prozessuale Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringenden Hilfsantrag musste wegen des Erfolgs des Hauptantrags nicht entschieden werden.
6598. Der Antrag zu 4. hat ebenfalls Erfolg.
660Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf Unterlassung der Bekanntgabe der Einstufung, da – wie soeben dargelegt - bereits die Einstufung als solche rechtswidrig ist.
661Auch insoweit bedurfte es aus den genannten Gründen keiner Entscheidung über den Hilfsantrag.
6629. Der Antrag auf Androhung eines (Ersatz-)Ordnungsgeldes für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die aufgrund der Klageanträge zur 3. und 4 ausgesprochenen Unterlassungsanordnungen (Klageantrag zu 5.) ist ebenfalls begründet.
663Die Entscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 890 ZPO. § 172 VwGO kommt hier nicht zur Anwendung, weil diese Vorschrift bei systematischem Verständnis - als Abweichung von den gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch im Verwaltungsrecht grundsätzlich geltenden Vorschriften der §§ 704 ff. ZPO - nur für die Fälle von Aufhebung bzw. Erlass eines Verwaltungsaktes heranzuziehen ist,
664vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 3. März 2021 - 7 B 190/21 -, juris Rn. 35.
665Es sind die Anforderungen und Besonderheiten zu beachten, die für die Vollstreckung gegen öffentlich-rechtliche Körperschaften gelten. Dabei kann in aller Regel davon ausgegangen werden, dass die öffentliche Hand angesichts ihrer verfassungsrechtlichen Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) verwaltungsgerichtliche Entscheidungen beachtet und es einer Vollstreckung nur ausnahmsweise bedürfen wird,
666vgl. hierzu und zum Folgenden OVG NRW, Beschluss vom 17. Oktober 2017 - 4 B 786/17 -, juris, Rn. 47 ff.
667Andererseits sind die Verwaltungsgerichte auch verpflichtet, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Gemessen daran hält das Gericht mit Blick auf die gesetzliche Einschätzung des erforderlichen Einwirkens auf Behörden im öffentlich-rechtlichen Bereich in § 172 VwGO die Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 10.000 € zur Wahrung wirkungsvollen Rechtsschutzes für angemessen und ausreichend,
668vgl. auch VG Hamburg Beschluss vom 23. August 2021 - 17 E 2904/21, BeckRS 2021, 23667 Rn. 44.
669III. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
670IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO analog i.V.m. § 709 ZPO.
671V. Die Berufung war zuzulassen; die Frage, ob eine Teilorganisation einer im Deutschen Bundestag und in allen Landesparlamenten vertretenen Partei durch das Bundesamt als Verdachtsfall und erwiesen extremistische Bestrebung eingestuft und eine solche Einstufung bekannt gegeben werden kann, hat grundsätzliche Bedeutung, § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
672Rechtsmittelbelehrung
673Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
674Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.
675Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
676Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
677Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
678Ferner ergeht ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter der
679Beschluss
680Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
68175.000 Euro
682festgesetzt.
683Gründe
684Bei der Bemessung des Streitwerts der Klageanträge zu 3. und 4. ergibt sich die Bedeutung der Sache für die Klägerin aus der Höhe des Ordnungsgeldes aus dem Klageantrag zu 5. (jeweils 10.000 Euro), § 52 Abs. 1 GKG. Bei der Bemessung des Klageantrags zu 5. hat das Gericht die maximale Höhe des angedrohten Ordnungsgeldes (20.000 Euro) zum Maßstab genommen, § 52 Abs. 3 GKG. Für die übrigen Klageanträge ist jeweils der Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG von 5.000 Euro zugrunde zu legen.
685Rechtsmittelbelehrung
686Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
687Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
688Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
689Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
690Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.